Der Geist Stalins
Der 20. Parteitag der KPdSU beginnt am 14. Februar 1956. Es ist der erste Parteitag nach dem Tod des russischen Diktators Josef Stalin 1953. Als Nikita Chruschtschow am 25. Februar 1956 ausgewählte Delegierte am Ende des Parteitages zu einer geschlossenen Sondersitzung bittet, ist Stalin bereits drei Jahre tot.
Doch sein Geist weilt immer noch unter den Lebenden: Stalins sterbliche Überreste liegen konserviert im Mausoleum. Zum Denkmal erstarrt, begegnet man ihm an unzähligen Plätzen; Straßen und Städte tragen seinen Namen.
Als Chruschtschow seine Rede beginnt, sind die Nerven der Anwesenden zum Zerreißen gespannt. Was ist das für eine Sondersitzung, von der niemand weiß und die kurzfristig anberaumt scheint? Journalisten haben keinen Zutritt, jegliche Aufzeichnungen sind verboten, auch Tonbandmitschnitte nicht gestattet.
Zwar wird Chruschtschow später in seinen Memoiren nachdrücklich behaupten, die Rede sei persönlich und aus einem spontanen Impuls heraus verfasst gewesen. Doch der Erste Sekretär liest die mehr als 20.000 Wörter umfassende Ansprache vom Blatt ab, statt sie frei vorzutragen.
Überhaupt scheint Chruschtschow sehr angespannt. Die Worte wirken genau gewählt, die Rede auffallend sorgfältig redigiert – alles scheint von langer Hand vorbereitet worden zu sein.
Erst nach Stalins Tod wagte die Sowjetführung den Protest
Wider den Übermenschen
Es sei unzulässig und widerspreche dem Geist des Marxismus-Leninismus, sagt Chruschtschow,
"eine Person herauszuheben und sie zu einem Übermenschen zu machen, der gottähnliche, übernatürliche Eigenschaften besitzt, zu einem Menschen, der angeblich alles weiß, alles sieht, für alle denkt, alles kann und in seinem ganzen Verhalten unfehlbar ist. Ein solcher Glaube an einen Menschen, und zwar an Stalin, [ist] viele Jahre lang kultiviert worden".
Die Delegierten sind wie vom Donner gerührt. Sie wirken wie versteinert, wagen kaum zu atmen, im Saal herrscht Totenstille. Chruschtschow fährt fort:
"Stalin hielt sich nicht damit auf, die Menschen zu überzeugen, aufzuklären und geduldig mit ihnen zusammenzuarbeiten, sondern er zwang anderen seine Ansichten auf und verlangte absolute Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich seiner Konzeption widersetzte oder einen eigenen Standpunkt zu vertreten, die Korrektheit der eigenen Position zu beweisen suchte, wurde unweigerlich aus dem Führungskollektiv ausgestoßen und anschließend sowohl moralisch als auch physisch vernichtet..."
"Dem Geist des Marxismus-Leninismus zuwider"
Wider den stalinistischen Terror
Chruschtschow stößt Stalin endgültig vom Thron: Stalin sei ein Tyrann und Despot gewesen, der sich
"in einer ganzen Anzahl von Fällen als intolerant und brutal erwies und [...] seine Macht missbrauchte. Anstatt seine politische Korrektheit zu beweisen und die Massen zu mobilisieren, schlug er oft den Weg der Unterdrückung und physischer Vernichtung ein, und zwar nicht nur im Kampf gegen tatsächliche Feinde, sondern auch gegen Personen, die keine Verbrechen gegen die Partei und die Sowjetregierung begangen hatten".
Mit detaillierten Schilderungen der Repressionen und Verhaftungen geht Chruschtschow schließlich auf die Ermordung ganzer Kader und Gruppen unter Stalin ein. Chruschtschow zeichnet ein finsteres Bild der stalinistischen Morde, der so genannten "Säuberungen", der ständig drohenden Verhaftung und Vernichtung durch den Diktator, der unberechenbar war und nach reinem Gutdünken herrschte.
Täter und Opfer
Aber Chruschtschow rückt nur mit einem Teil der Wahrheit heraus. Nur die Verbrechen Stalins an der Partei werden thematisiert, nicht die am sowjetischen Volk. Und er betont: "Andererseits hat Stalin in der Vergangenheit der Partei, der Arbeiterklasse und der Internationalen Arbeiterbewegung zweifellos auch große Dienste geleistet."
Schließlich erklärt sich Chruschtschow sogar kurzerhand zum Opfer des Despoten: "Wer versuchte, sich gegen grundlose Verdächtigungen und Anschuldigungen zur Wehr zu setzen, fiel den Repressalien zum Opfer."
Doch auch Chruschtschow war eine Kreatur Stalins. Als Moskauer und ukrainischer Parteichef war er selbst an den so genannten "Säuberungen" beteiligt gewesen und hatte zahlreiche Erschießungen befehligt.
Nach der Rede herrscht lähmendes Entsetzen, die Anwesenden sind wie betäubt. Nur langsam finden die Delegierten wieder zu sich.
Die Londoner Zeitung "Daily Mail" berichtet am 22. Mai 1956 die folgende Geschichte:
"Nach seiner Rede wurde Chruschtschow ein Zettel hinaufgereicht, auf dem geschrieben stand: 'Was tatest Du, als Stalin diese Verbrechen beging?'
Chruschtschow las die Frage vor und sagte: 'Ich bitte den Fragesteller aufzustehen.' Niemand rührte sich.
'Das', sagte Chruschtschow, 'ist genau das, was ich getan habe, während Stalin an der Macht war.' "
Unter Stalin (links) wurde auch Chruschtschow (rechts) zum Täter
Entstalinisierung und Tauwetter
Das stalinistische System der Gulag-Straflager wird in weiten Teilen aufgelöst, Millionen Häftlinge kommen frei. Die eigens eingerichtete Kommission zur Rehabilitierung stalinistischer Opfer wird mit einer Flut von Gesuchen überschwemmt. Das sogenannte politische "Tauwetter", benannt nach einem Roman Ilja Ehrenburgs, bringt in den sozialistischen Bruderländern die kommunistischen Regime ins Wanken.
Das aber kann die Sowjetunion nicht zulassen, sie schlägt hart zurück. In Polen wird der aufsehenerregende Streik der Posener kompromisslos und blutig unterdrückt. In Ungarn formiert sich im Oktober 1956 der Arbeiter- und Studenten-Aufstand, der von der sowjetischen Armee mit Panzern gewaltsam beendet wird.
1961 ordnet die sowjetische Regierung schließlich die Entfernung des Leichnams Stalins aus dem Lenin-Mausoleum an. Stalin wird an der Kreml-Mauer neu beerdigt. Straßen, Plätze, Gebäude und Städte werden umbenannt, Stalin-Denkmäler demontiert und beseitigt.
Chruschtschows Rede, die als sogenanntes Geheimreferat mit dem Titel "Der Personenkult und seine Folgen" in die Geschichte eingeht, wird in der Sowjetunion jahrzehntelang öffentlich weder bestätigt noch dementiert. Erst 1989 wird die Authentizität der Rede endgültig anerkannt und erstmalig in den "Nachrichten des ZK der KPdSU" publiziert. Doch da liegt das Regime des Sowjetkommunismus längst in Trümmern.
Ungarn 1956: Zerschlagung des Denkmals
(Erstveröffentlichung 2007. Letzte Aktualisierung 10.10.2018)
Quelle: WDR