Die Gründung von "Massalia"
Im 6. Jahrhundert vor Christus brachen Griechen in Kleinasien auf, um die Mittelmeerküste zu erkunden. Kelto-Ligurer besiedelten damals das Gebiet der Provence. Der Gründungsmythos von Marseille besagt, dass die Griechen ausgerechnet an dem Tag an der Küste des heutigen Marseille landeten, als der keltische König Nann einen Gatten für seine Tochter Gyptis suchte.
Gyptis sollte unter allen versammelten jungen Männern demjenigen einen Kelch reichen, den sie zu heiraten wünschte. Überraschenderweise war es Protis, der Anführer der Neuankömmlinge aus Griechenland, dem sie das Gefäß übergab. Die beiden heirateten, und Griechen und Kelten gründeten gemeinsam die Siedlung "Massalia".
Der Name "Massalia" setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: "Mas" ist die heute noch existierende provenzalische Bezeichnung für ein Haus oder eine Siedlung, "salia" lässt sich auf den Keltenstamm der damals in diesem Gebiet ansässigen Salier zurückführen.
Wohlstand während Antike und Mittelalter
Nach der Siedlungsgründung wuchs die Bevölkerung Massalias rasch. Die Griechen führten Geld als Zahlungsmittel ein, das den bis dahin üblichen Tauschhandel ablöste. Stück für Stück begannen sie, von Massalia aus ein Seehandelsnetz aufzubauen.
Ihre erste Blütezeit als Handelsstadt erlebte die Stadt im 4. Jahrhundert vor Christus. Zwei Jahrhunderte später wurden die Griechen von den Römern als Stadtherren abgelöst. Diese prägten das Stadtbild durch Neubauten wie die Stadtmauer und Hafenanlagen und führten außerdem die christliche Religion ein. Am Ende der Antike war Marseille einer der wichtigsten Mittelmeerhäfen.
Der Hafen garantierte lange den Wohlstand
Die zweite Blütezeit Marseilles begann im 11. Jahrhundert, als das Gebiet politisch zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte. Die Seewege im Mittelmeer wurden ausgebaut, der Handel florierte. Von der Obrigkeit weitgehend unabhängig, verwaltete Marseille sich praktisch selbst. Von 1216 bis 1218 bildete das Stadtgebiet sogar eine eigenständige Republik.
Diese Situation änderte sich erst, als die Provence ab Ende des 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft der französischen Krone stand. Es war deshalb kaum verwunderlich, dass sich die Bevölkerung gegen die plötzliche Allmacht des französischen Königs wehrte. Dieser bestrafte die Aufsässigkeit der Stadt damit, dass er den Standort der Kriegsflotte von Marseille nach Toulon verlegte.
Das revolutionäre Marseille und die "Marseillaise"
"Nur wer in Marseille regiert, kann in Frankreich herrschen" – dieser Ausspruch des französischen Königs Henri IV. im 15. Jahrhundert ist auf den eigensinnigen und nach Unabhängigkeit strebenden Geist der Marseillais, wie sich die Bewohner der Stadt nennen, gemünzt.
Obwohl sich auch während der Französischen Revolution 1789 die meisten Geschehnisse in Paris abspielten, ist das berühmte Revolutionslied nach der Metropole am Mittelmeer benannt. Die "Marseillaise" wurde von den Männern eines Marseiller Freiwilligenheers gesungen, als sie 1792 in Paris einmarschierten. Das einstige Kampflied ist heute die französische Nationalhymne.
Die Marseillaise – Nationalhymne der Franzosen
Auch in Marseille ließen sich die Bewohner von der revolutionären Dynamik mitreißen. Die erste Begeisterung flachte allerdings rasch ab, als klar wurde, dass die neue Regierung Gewalt und Brutalität zum Machterhalt keineswegs scheute. Marseille stellte sich auf die Seite der gemäßigten Girondisten. Paris schlug diese Opposition jedoch rasch nieder und degradierte Marseille zur "Stadt ohne Namen".
Während und nach der Revolution wurde Frankreich zunehmend zentralisiert. Dennoch konnte Marseille seine Stellung als wichtigster Hafen im westlichen Mittelmeer behaupten. Dazu trugen die Ernennung zur Hauptstadt des Départements Bouche-du-Rhône , die französische Kolonisation Nordafrikas sowie die Eröffnung des Suez-Kanals 1869 bei.
Schicksalsschläge der Geschichte
Zu den Blütezeiten Marseilles gibt es einen scharfen Kontrast: Mehrmals ereilten die Stadt Schicksalsschläge, von denen sie sich aber ungewöhnlich schnell wieder erholte. Die erste Katastrophe ereignete sich, als sich das antike Massalia 49 vor Christus bei einer Auseinandersetzung zwischen Römern und Galliern auf die Seite der späteren Verlierer schlug – die der Gallier.
Dafür musste es teuer bezahlen: Nachdem die Römer den Sieg errungen hatten, zerstörten sie die Flotte der Stadt und vereinnahmten alle städtischen Besitzungen. Für die Handelsstadt Massalia bedeutete dies einen enormen Bedeutungsverlust. Ganz zum Erliegen kam der Handel jedoch nie, auch nicht, als die Araber 838 Marseille vollständig zerstörten.
Im Jahr 1720 brachten syrische Seeleute die Pest mit nach Marseille. 50.000 Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, erlagen dem "Schwarzen Tod". Doch auch dieses Unglück verkraftete die Stadt verhältnismäßig schnell. Schon 60 Jahre später lebten wieder 120.000 Menschen in Marseille.
Im Januar 1943 zerbombten deutsche Soldaten das historische Hafenviertel, um untergetauchte Juden ihrer Versteckmöglichkeiten zu berauben. All diesen Schicksalsschlägen zum Trotz erwachte die Stadt immer und immer wieder zu neuem Leben.
Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg setzte die Stadt Marseille sogar ein sichtbares Zeichen der Aussöhnung, indem sie 1956 mit Hamburg die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft überhaupt einging.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt stark zerstört
Multikulturelle Metropole – Marseille im 21. Jahrhundert
Heute ist Marseille eine moderne Hafenstadt mit etwa 850.000 Einwohnern und damit nach Paris die zweitgrößte Stadt Frankreichs. Doch der Ruf der Stadt ist nicht der beste: Kriminalität und Rassismus sind Worte, die häufig im Zusammenhang mit der Hafenstadt fallen. Diese Vorurteile entstanden in den 1980er-Jahren und sind sicherlich nicht unbegründet.
Heute noch erzielt die rechtspopulistische Partei "Rassemblement National" (bis 2018 Front National FN genannt) aufgrund ihrer Anti-Einwanderungspolitik hohe Wahlergebnisse im Stadtbezirk. Dennoch hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einiges getan. Die Kriminalitätsrate ging zurück, soziale Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurden bekämpft.
Der Lauf der Geschichte verschlug Menschen aus aller Herren Länder in die Metropole am Mittelmeer: Kriegsflüchtlinge aus ganz Europa, Zuwanderer aus Nordafrika, südeuropäische Arbeitsimmigranten. Der in Marseille geborene Fußballspieler Zinédine Zidane zum Beispiel, der in Frankreich wie ein Held verehrt wird, ist Sohn algerischer Einwanderer. Seine Sportart war es auch, die mit der Weltmeisterschaft 1998 zu einer Imageverbesserung der Stadt beitrug.
Zinédine Zidane – der vielleicht berühmteste Sohn der Stadt
Nach dem Christentum ist der Islam die zweitwichtigste Religion in Marseille. Das Nebeneinander der beiden Glaubensrichtungen funktioniert nicht immer ohne Probleme.
"Marseille ist das Tor zur Welt, Marseille ist die Schwelle der Völker. Marseille ist Okzident und Orient", schrieb der Schriftsteller Joseph Roth schon 1925. Diese Tradition der Multinationalität ist bis heute ungebrochen und wird gefördert: Marseille wurde unter anderem deshalb zur Europäischen Kulturhauptstadt 2013 ernannt, um die europäischen Mittelmeerländer noch stärker mit Nordafrika zu verbinden.
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 05.03.2019)
Quelle: WDR