Mythologie als Deutungshilfe
Die Bauern hatten herausgefunden, dass der angespülte Schlamm aus ihren kargen Böden fruchtbare Flächen machte. Jedes Jahr nach den großen Überschwemmungen im Sommer bestellten sie ihre Felder. Vom Ertrag konnten sie gut leben.
Blieb das Hochwasser aber aus, wurden Nahrungsmittel knapp. Für viele Menschen konnte das den Hungertod bedeuten. Der griechische Gelehrte Herodot bezeichnete Ägypten daher als "Geschenk des Nils".
Oft wird der Nil als Lebensader Ägyptens bezeichnet, die das Land in regelmäßigen Abständen mit Nährstoffen versorgt. Was dem menschlichen Körper der Herzschlag ist, der das Blut pumpt, sind den Ägyptern die Niederschläge im äthiopischen Hochland. Sie lassen den Nil über die Ufer treten – bestenfalls jedes Jahr.
Nach diesem Rhythmus richten die Menschen dort seit Jahrtausenden ihr Leben und Arbeiten aus. Er bestimmte schon zu den Zeiten der Pharaonen die Lebensumstände und war fest verankert in ihrem Denken und Hoffen.
Schon vor vielen tausend Jahren betrieben die Menschen Landwirtschaft am Nil
Mehr noch, das Überleben hing von diesem mächtigen Strom ab. Warum in manchen Jahren das Hochwasser reiche Ernte bescherte, dann aber wieder ausbleiben konnte, wussten die Menschen damals noch nicht. Naturereignisse waren nicht erklärbar, sondern wurden den Launen der Götter zugeschrieben, denen sie sich schicksalhaft ergeben mussten.
Allerdings versuchten die alten Ägypter einen Sinn darin zu sehen: Wozu das alles? Sie erdachten unzählige Mythen und Götter, mit denen sie ihre Umstände deuteten. Das half, sich zurechtzufinden in einer Welt, deren Naturgewalten sie ausgeliefert waren. Aber nicht überall erzählte man sich die gleichen Geschichten.
Hauptkulturzentren in Oberägypten waren damals Hermopolis und Theben. In Unterägypten waren es die Gegenden um Memphis und Heliopolis, die Weltanschauungen und Religionen prägten. Von dort aus wurden sie jeweils auch in die weiter entlegenen Regionen getragen. Außerdem besaß jedes Gebiet eigene Lokalgottheiten. Sie wurden zusätzlich zu den überregionalen Hauptgottheiten verehrt.
Im Laufe der Zeit kam es zu Überschneidungen und Verschmelzungen all dieser mythologischen Gestalten. Deshalb ist es schwierig zu bestimmen, wie viele Götter sich im ägyptischen Pantheon tummelten. Experten gehen von etwa 1500 aus. Viele davon hatten ähnliche Fähigkeiten und Funktionen. Erhofften sich die Menschen Beistand, konnten sie etwa die Schutzgöttinnen Selket oder Neith anrufen.
Auch die Darstellung der göttlichen Figuren war äußerst vielfältig. Manche Götter kamen in abstrakter Form daher, wie Aton – eine Erscheinungsform des Sonnengottes Re. Er wurde als Sonnenscheibe dargestellt. Andere hatten Tiergestalt, waren dem Menschen nachempfunden oder eine Mischung aus beidem. Wie der bekannte Sonnengott Re, dessen menschlicher Körper häufig einen Falkenkopf trägt.
Echnaton opfert dem Gott Aton
Der Urschöpfer Atum und der Urozean Nun
Die mehr als 3000 Jahre alte Kultur der Ägypter kennt – anders als das Christentum mit seiner biblischen Schöpfungsgeschichte, der Genesis – unterschiedliche Schöpfungsmythen. Das erklärt sich aus der Existenz der großen Kulturzentren. Dort entwickelte man jeweils eigenständige Versionen vom Ursprung der Welt und allen Seins.
Die wohl älteste Entstehungsgeschichte wird der Stadt Heliopolis zugeschrieben. Danach gilt der Sonnengott Atum als der Urschöpfer. Er war dem Urozean Nun entstiegen, weshalb er auch "der Selbsterstandene" genannt wird. Da es noch kein Land gab, erschuf er den Urhügel aus sich selbst heraus. Weil Atum Männliches und Weibliches gleichermaßen in sich vereinigte, gingen auch die beiden ersten Götter aus ihm allein hervor. Damit gilt er als Vater aller Götter.
So oft wie sein Name wird kein anderer in den alten Pyramidentexten genannt. Das Bild vom Urhügel findet sich in einigen Schöpfungsmythen. Möglicherweise deshalb, weil nach dem Rückgang des Nils sein Schlamm an den Ufern zurückbleibt und es dadurch etwas hügeliger aussieht. Ein Beispiel dafür, wie die alten Ägypter Naturerfahrungen in die mythische Welt verorteten.
Ein ewiger Kreislauf
Die Überflutungen, die das Nilhochwasser mit sich brachte, deuteten die Ägypter als Zeichen für Schöpfung, Tod und Wiedergeburt. Ein immerwährender Zyklus, dessen sie jedes Jahr aufs Neue gewahr wurden.
Wann der Nil den fruchtbaren Schlamm auf die Felder schwemmte, konnten sie durch Beobachtung der Gestirne ziemlich genau bestimmen. Schon früh eigneten sie sich astronomische Grundkenntnisse an, weil sie einen Zusammenhang zwischen dem Stand der Himmelskörper und den Naturereignissen erkannt hatten.
Erschien im Juni der Siriusstern, kündigte das die Nilflut an und markierte gleichzeitig den Jahresanfang. Die Beobachtung der Sterne schlug sich auch in der altägyptischen Spiritualität und Mythologie nieder. In der Welt der Götter repräsentierte Sopdet beispielsweise den Siriusstern. Von dieser Fruchtbarkeitsgöttin und Göttin der Wiedergeburt hieß es, sie bringe das neue Jahr und ließe den Nil über die Ufer steigen.
Ein anderer Fruchtbarkeitsgott ist Hapi. Er steht für die Nilfluten selbst. Ihm wurden die lebensspendenden Überschwemmungen zugeschrieben, die für den Anbau und eine erfolgreiche Ernte Voraussetzungen waren.
Hapi war es, der den Nil in Bewegung hielt und so dafür sorgte, dass das Wasser rechtzeitig über die Ufer treten konnte. Deshalb war es wichtig, ihn versöhnlich zu stimmen, denn von seinem Willen hing sehr viel ab. War er den Menschen nicht wohlgesonnen, blieb das Hochwasser aus, glaubten sie – und damit ihre Versorgungsgrundlage.
Hapi ist die göttliche Erscheinungsform der Nilfluten
Dargestellt wurde Hapi als dickbäuchiger Mann mit herabhängenden weiblichen Brüsten. Seine Haut war blau oder grün. Als Kopfbedeckung trug er eine Papyrus- oder Lotospflanze. Alle diese Attribute symbolisieren die Fruchtbarkeit, die er bringt.
Die Sonne hatte ebenfalls einen hohen mythischen Stellenwert. Ihr tägliches Auf- und Untergehen stand für eine kontinuierliche Erneuerung. Im Lauf der Sonne sowie sämtlicher Himmelskörper überhaupt sahen die Ägypter eine Schifffahrt der Götter.
Die Sonne wurde durch den Sonnengott Re verkörpert: Abends nimmt ihn die Himmelsgöttin Nut in ihrem Mund auf und verschluckt ihn. Am nächsten Morgen wird Re im Osten aus dem Schoß der Nut wiedergeboren und seine Fahrt über den Himmelsozean beginnt von neuem.
Quelle: SWR | Stand: 02.06.2020, 11:32 Uhr