Wassermassen aus Tschechien und Polen
Von Tschechien und Polen rollte eine gewaltige Flutwelle in Richtung Brandenburg. Solche Wassermassen hatten die Meteorologen in diesen Breitengraden bis dahin kaum für möglich gehalten.
Der Kampf gegen das Wasser beschäftigte zehntausende Helfer Tag und Nacht, eine ganze Nation saß vor dem Fernseher und hielt den Atem an. Das Oderhochwasser ging als Jahrhundertflut in die Geschichtsbücher ein – und stieß in Deutschland ein erstes Umdenken im Umgang mit Flüssen an.
Ein Tiefdruckgebiet namens Zolska
Anfang Juli 1997 braute sich über den tschechischen und polnischen Gebirgsregionen ordentlich etwas zusammen. Es dauerte nicht lange, dann setzten sintflutartige Regengüsse die Region unter Wasser. Schuld daran hatte ein Tiefdruckgebiet mit dem slawischen Namen Zolska.
Zolska sorgte für extremen Niederschlag, der in Europa selten ist. Auch die verheerende Flut fünf Jahre später an der Elbe war ein Resultat einer solchen Wetterlage.
Am 10. Juli waren weite Landesteile in Polen und Tschechien überflutet, über 30 Tote zu beklagen und mehrere tausend Menschen obdachlos. Während der gesamten Flut starben in Polen und Tschechien mehr als 100 Menschen.
Die Wassermassen rasten in Richtung Deutschland und erreichten am 14. Juli Frankfurt an der Oder. Hier wurde Alarmstufe 1 für die ganze umliegende Region ausgerufen. Die Kollegen aus dem polnischen Breslau konnten keine rettenden Vorhersagen weitergeben, da alle Messstationen überflutet waren.
Am 15. Juli stand der Landkreis Brandenburg unter Wasser. Die Pegelstände überschritten die normalen Sommerwerte mittlerweile um 3,50 Meter. Das Wasser stand bei fast sieben Metern. Doch Zolska gab keine Ruhe und legte nach: Am 18. Juli begann es erneut heftig zu regnen. Eine weitere Hochwasserwelle rollte im oberen Odergebiet an.
Deiche weichten auf, der Druck auf sie betrug mittlerweile rund sechs Tonnen pro Quadratmeter. Zwölf große Schadstellen waren zu verzeichnen, an hunderten Stellen sickerte das Wasser bereits durch. Erste Evakuierungen liefen auf Hochtouren. Mit tausenden Sandsäcken wurde notdürftig gestopft und der Deich erhöht.
Am 23. Juli brach der erste Deich bei Brieskow-Finkenherd in der Nähe von Frankfurt an der Oder. Die Bundeswehr versuchte die Lücke mit Betonteilen und Sandsäcken zu schließen – ohne Erfolg.
Ein weiterer Deich bei Aurith hielt den Wassermassen ebenfalls nicht mehr stand. Die in der Nähe gelegene Ziltendorfer Niederung wurde komplett überflutet, die Lage verschärfte sich dramatisch.
Als die Deiche brachen, stand alles unter Wasser
Das "Wunder von Hohenwutzen"
Die zweite Flutwelle erreichte das dicht bevölkerte Oderbruchgebiet am 30. Juli. Erste Evakuierungen im südlichen Teil begannen, in Ratzdorf wurde in Rekordzeit ein 800 Meter langer Zusatzdeich fertig gestellt. Doch große Sorgen machte der Deich bei Hohenwutzen, das Schicksal des Oderbruchs stand auf dem Spiel.
Experten schätzten, dass der Deich nur noch eine zehnprozentige Chance hatte, den Wassermassen standzuhalten. Vorsorglich wurden weitere Teile des Gebiets evakuiert. 6500 Menschen mussten ihre Häuser verlassen, historische Siedlungen und Baudenkmäler drohten unter einer Wasserfläche größer als der Bodensee zu verschwinden.
Was dann geschah, ging in die Geschichte der Deichverteidigung als das "Wunder von Hohenwutzen" ein: Hunderte von Hilfskräften kämpften im Dauereinsatz gegen den drohenden Deichbruch.
Hubschrauber brachten pausenlos tausende Sandsäcke zu den Soldaten, zahlreiche Tauchereinheiten deckten den Deich von der Wasserseite aus mit Folien ab. Eine spezielle, erstmals eingesetzte Vakuumtechnik machte es möglich, dass das Wasser aus dem völlig durchnässten Deich gezogen werden konnte.
Durch diesen spektakulären Einsatz konnte eine der schlimmsten Katastrophen verhindert werden. Der Deich hielt, das Oderbruch wurde von den schlammigen Wassermassen verschont. Anfang August waren die meisten Deiche unter Kontrolle, die Pegel allerdings sanken nur langsam, weil aus den zahlreichen Nebenflüssen immer noch reichlich Wasser nachfloss.
Am 9. August durften die Bewohner des Oderbruchs wieder in ihre Häuser zurück. Noch heute erinnert im Oderbruch eine Landmarke – das sogenannte Flutzeichen – an die Jahrhundertflut.
Deichschutz bei Hohenwutzen
Hubschrauber, Sandsäcke und helfende Hände: die Einsatzbilanz
Während das Land den Atem anhielt, arbeiteten tausende Helfer vor Ort in einer beispiellosen Zusammenarbeit Hand in Hand: Bis zum 10. Oktober machten 30.000 Soldaten aus dieser Rettungsaktion den bis dahin größten Bundeswehreinsatz im Katastrophenschutz. Nicht weniger als 10.000 Soldaten aus mehr als 70 Verbänden Deutschlands waren in der akuten Phase gleichzeitig im Einsatz.
Sie füllten zusammen mit dem Technischen Hilfswerk, der Polizei, der Feuerwehr, dem Bundesgrenzschutz, den zivilen Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern aus der Bevölkerung mehr als acht Millionen Sandsäcke mit rund 177.000 Tonnen Kies und Sand.
Die Bundeswehr rückte mit mehr als 3000 Fahrzeugen und Spezialmaschinen und nicht weniger als 50 Hubschraubern an. Letztere transportierten in rund 2700 Flugstunden mehr als 2000 Personen und etwa 3500 Tonnen Material – so die Bilanz des Landes Brandenburg.
Weil hunderte Fachkräfte und ortskundige Experten sämtliche Hilfseinheiten mit ihrem Wissen unterstützten, konnten viele Menschen und Ortschaften vor einer schlimmeren Überflutung gerettet werden. Doch es gab noch einen anderen Grund, weshalb "Brandenburg mit einem blauen Auge davongekommen ist", wie der damalige Umweltminister Matthias Platzek einräumte.
Es waren die großen Überschwemmungsgebiete in Polen, die den Pegelstand in Deutschland günstig beeinflussten. An der deutschen Oder waren diese sogenannten Retentionsflächen nicht groß genug.
In den vergangenen hundert Jahren waren sie systematisch um fast 80 Prozent reduziert worden. Nur noch 75.000 Hektar Überschwemmungsfläche waren hier vorhanden. Das Flutwasser hätte dort in der gesamten Form nie aufgenommen werden können. Ein fatales Lehrstück der Natur, das zeigt, warum es so gefährlich ist, den Flüssen ihre natürliche Umgebung zu nehmen. Die Hochwasserschäden beliefen sich auf eine halbe Milliarde D-Mark.
Die Oder braucht mehr Platz
Zeit zum Umdenken: Wie es an der Oder weitergeht
Seit Jahrzehnten fordern Naturschützer einen Stopp für den Ausbau der Flüsse. Denn: "Jede Uferbefestigung, jede Flussvertiefung und Begradigung greift tief in das Flusssystem ein und zieht schwer kalkulierbare Konsequenzen nach sich", sagt Klaus Lanz in seinem Artikel "Was Flüsse brauchen".
Auch wenn die Oder in einigen Abschnitten zu den am geringsten verbauten Flüssen in Europa zählt, so gibt es dennoch viele Staustufen, hohe Deiche, Polder und begradigte Ufer.
Die Zähmung der Flüsse für die Schifffahrt bedeutet gleichzeitig ein Risiko für die Menschen. In einem begradigten Fluss fließt das Wasser sehr viel schneller und unkontrollierter. Verbaute Böden verhindern das schnelle Einsickern der Wassermassen, beste Bedingungen für eine Flutwelle.
Das Land Brandenburg scheint aus den Hochwasserkatastrophen Konsequenzen zu ziehen. 30 Naturschutzorganisationen aus Deutschland, Polen und Tschechien schlossen sich zum Aktionsbündnis "Zeit für die Oder" zusammen. Das Ziel: Die Oder soll durch mehr Retentionsflächen zu einem naturnaheren Fluss werden.
So wurde unter anderem bei Ratzdorf eine Überflutungsfläche von mehr als 1500 Hektar geschaffen. Selbst die bis dahin stets skeptischen Landwirte stimmten dem Projekt zu und gaben grünes Licht dafür, dass ihre Wiesen bei Bedarf überflutet werden dürfen.
Die Naturschutzorganisation Bund-Berlin befürchtet allerdings, dass auf der polnischen Seite trotzdem ein Ausbau der Oder stattfindet. So will das Aktionsbündnis aus Naturschützern beobachtet haben, dass auf der polnischen Seite des Nationalparks "Unteres Odertal" teilweise "naturnahe Ausbuchtungen zugeschüttet und Altarme vom Flusslauf abgeschnitten" wurden.
Dennoch: Seit den Hochwasserkatastrophen in Ostdeutschland scheinen immer mehr Verantwortliche auf die Sprache der Flüsse zu hören. Und die sagt: Mehr Platz bitte!
(Erstveröffentlichung: 2005. Letzte Aktualisierung: 15.06.2020)
Quelle: WDR