Faszination Quallen – Uralte Meeresbewohner mit Superkräften

neuneinhalb 10.08.2024 09:30 Min. UT Verfügbar bis 10.08.2029 Das Erste


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Tiere im Wasser

Quallen

Quallen zählen zu den ältesten Tieren der Erdgeschichte und sind noch heute in allen Meeren zu Hause. Sie sind wahre Überlebenskünstler: Durch ihre Anpassungsfähigkeit waren sie in der Lage, 670 Millionen Jahre der Evolution zu überdauern.

Von Bärbel Heidenreich

Ohne Rückgrat und fast nur aus Wasser

Quallen werden von Biologen dem sogenannten Stamm der Nesseltiere zugeordnet. Auch Polypen und Blumentiere wie die Seeanemonen gehören dazu. Sie alle besitzen Nesselkapseln an ihren Fangarmen (Tentakeln). Bei Berührung schießt ein Gift heraus, das auf der Haut mehr oder minder stark nesselt, ähnlich wie beim Kontakt mit Brennnesseln.

Man unterscheidet zwei große Gruppen von Quallen: die harmlosen Scheiben- oder Schirmquallen und die gefährlich giftigen, vierkantigen Würfelquallen. Außerdem gibt es noch die nicht-echten Quallen wie die Rippenqualle. Ihr fehlen die Nesselkapseln und das macht sie untypisch.

Wissenschaftler bezeichnen die transparenten Schönheiten als Plankton, weil sie trotz Schwimmbewegungen vor allem durch die Strömung getrieben werden. Kugelig, würfelförmig, schirmartig und in unterschiedlicher Färbung bevölkern sie die Ozeane.

Ihre Gemeinsamkeit: Sie bestehen zu fast 99 Prozent aus Wasser. Ihr Körper ist ein Gebilde aus nur zwei hauchdünnen Zellschichten, einer inneren und einer äußeren. Dazwischen liegt eine Gallertmasse als Stützschicht, die gleichzeitig Sauerstoffreservoir ist: Darüber versorgt die Qualle ihren Körper mit Sauerstoff.

Der Hohlraum an der inneren Zellschicht ist der Magenraum. Hat sich die Qualle eine Plankton- oder Fischmahlzeit mit ihren Fangarmen erobert, übernehmen spezielle Zellen dieser inneren Zellschicht den Verdauungsprozess. Damit die Verdauungssäfte nicht vom Meerwasser weggespült werden, gilt das Prinzip "engsten Kontakt mit dem Opfer halten".

Der Mageninhalt muss eng an den Verdauungszellen anliegen. Auf diese Weise wird er allmählich zur Zellwand hin verdaut. Von dort gibt es ein Kanalsystem in der Zellschicht, das sternförmig über den Körper bis zum Rand führt. Es versorgt die Qualle mit allen Nährstoffen und entsorgt alles Unverdauliche.

Mit Giftharpunen unterwegs

Manche Quallenarten besitzen nur einen dichten Kranz kurzer Tentakeln, andere erbeuten sich ihre Nahrung mit bis zu 20 Meter langen Fangarmen. Daraus könnte sich ein flinkes Opfer vielleicht noch befreien – deshalb macht die Qualle es gleichzeitig kampfunfähig.

Dazu benutzt sie ihr Giftarsenal: Eine etwa zehn Meter lange Tentakel ist mit rund 700.000 hoch explosiven Nesselkapseln ausgestattet. Sie wirken wie Giftharpunen und reagieren blitzschnell. Bei Berührung schießt eine winzige Injektionsnadel in die Haut des Opfers. In diese Stichwunde dringt dann der Nesselschlauch mit dem Gift.

Der ganze Vorgang dauert gerade mal eine hunderttausendstel Sekunde. Durch das Gift gelähmt oder getötet, kann das Opfer ohne Gezappel verschlungen und vor allem verdaut werden. Dazu führt die Qualle es mit ihren Tentakeln über die Öffnung zum Magenraum.

Quallen gehören zu den giftigsten Meeresbewohnern überhaupt. Aber wozu brauchen sie ein Gift, das auf Menschen tödlich wirken kann, wenn ihre Beute nur Plankton und kleine Fische sind?

Der Grund: Meeresbewohner sind wesentlich unempfindlicher gegenüber Quallengiften. Zwar sind alle Quallen giftig, aber nicht alle sind für den Menschen gefährlich. Die überwiegend planktonfressenden Schirmquallen sind längst nicht so giftig wie die fischfressenden Würfelquallen. Am giftigsten ist die australische Seewespe.

Über helltürkisem Boden und vor dunkelblauem Hintergrund schwimmt eine Qualle, die wie ein Pilz mit überlangem Stiel aussieht. Sie ist weiß und zart rot geädert, mit langen fadenartigen Tentakeln.

Kompassqualle

Hirnlos clever

Quallen haben ein Nervensystem, sie haben Sinnesorgane, aber kein Gehirn. Trotzdem können sie Beute jagen, auf Feinde reagieren und Geschlechtspartner erkennen. Möglich machen das spezielle Sinneszellen in der äußeren Zellschicht. Damit können sie Licht und Schwere wahrnehmen. Sie spüren die Erdanziehungskraft und unterscheiden so oben von unten.

Ein Gehirn, das die Wahrnehmung verarbeitet und dann zum Beispiel den Befehl "Beute fangen" an die Fangarme weitergibt, hat die Qualle nicht. Dass sie trotzdem blitzschnell reagieren kann, erklären Quallenforscher so: Der Reiz einer bestimmten Wahrnehmung setzt automatisch eine Reaktion in Gang und diese eine zweite, eine dritte und so weiter. Ein festgelegter Ablauf, der durch das Nervensystem gesteuert wird.

Wenn die Qualle einen Fangarm verliert oder einen Teil vom Schirm – kein Problem: Sie besitzt nämlich überall "Super-Zellen". Sie sind in der Lage, den gewünschten Körperteil nach Bedarf nachzubilden. Dafür bildet sich die Zelle zuerst in ein embryonales Stadium zurück, um sich anschließend in einen neuen Zelltyp zu verwandeln.

Unsterblich sind Quallen trotzdem nicht. Haben sie erfolgreich für Nachkommen gesorgt, ist ihr Lebenszyklus meistens abgeschlossen. Tentakel und Sinnesorgane bilden sich zurück und lösen sich auf. Übrig bleibt eine ungiftige Gallertscheibe, ein Leckerbissen für Fische.

Eine weiß leuchtende Qualle, die wie ein schräg liegender Schirmpilz durch das dunkelblaue Wasser segelt.

Eine Leuchtqualle im Mittelmeer

Fortpflanzung mit und ohne Sex

Haben die Quallen mehr Nahrung zur Verfügung, als sie zum Überleben brauchen, setzen sie die überschüssigen Kräfte in die Entwicklung von männlichen Samenzellen und weiblichen Eizellen um. Dabei kennt nur die Würfelqualle den sexuellen Körperkontakt. Bei allen anderen ist Sex eher eine passive Angelegenheit.

Das sieht dann so aus: Nähern sich zwei Quallen unterschiedlichen Geschlechts, platzen die weiblichen Eizellen und die männlichen Samenzellen aus der Innenhaut des Magenraumes heraus und treffen sich im Meer.

Noch einfacher geht es bei zweigeschlechtlichen Quallen zu. Sie verzichten auf einen Partner, weil sie sich selbst befruchten: Zuerst bilden sie die männlichen Samen und dann die weiblichen Eizellen.

Aus den befruchteten Eiern schlüpfen schon bald winzige Larven. Sie suchen sich ein Gebiet, wo sie sesshaft werden können, heften sich an und wachsen zu festsitzenden Polypen heran.

Sind diese groß genug, bildet sich seitlich ein blasenartiges Gebilde mit einer inneren und einer äußeren Haut. Eine Art Miniqualle entsteht. Schon bald löst sie sich vom Polypen ab, um als Freischwimmer weiterzuleben, während der Polyp sitzen bleibt.

Die Metamorphose – also die Verwandlung vom Polypen zur Qualle – gilt bei den Biologen als besonders charakteristische Fortpflanzungsart. Es gibt aber auch Ausnahmen: So stoßen manche Quallen einfach Körperteile ab, aus denen sich dann neue Tiere entwickeln.

Andere, wie die Hochseequalle, umgehen das Polypenstadium. Sie vermehrt sich direkt im Meer. Ebenso die Tiefseequalle, die in einer Tiefe von bis zu 6000 Metern zu Hause ist.

Beim Blick auf die Qualle von oben erscheint sie wie eine hellrote Sonne

Eine Feuerqualle in der Ostsee

Lebensräume der phantastischen Wesen

Quallen beherrschen fast alle Ozeane. Dabei haben Biologen festgestellt, dass die Artenvielfalt abnimmt, je kälter die Zonen sind. Nur die Ohrenqualle lebt in allen Weltmeeren zwischen dem 70. nördlichen und dem 40. südlichen Breitengrad.

Die besonders giftigen Würfelquallen dagegen bevorzugen die tropischen und subtropischen Gebiete. Ihrem jeweiligen Lebensraum bleiben sie treu. Denn: Löst sich die Jungqualle vom festsitzenden Polypen, trägt sie die Strömung nicht weit von ihrem ursprünglichen Felsen oder Korallenriff. Daher findet man die meisten Arten in Küstennähe.

Ungefährlich ist ein Quallenleben nicht, auch wenn ihre Transparenz zur Tarnung beiträgt. Bei Fischen und Krebsen stehen vor allem die weniger giftigen planktonfressenden Quallen auf dem Speiseplan.

Noch ärger ergeht es den Polypen: Nacktschnecken fressen ganze Kolonien dieser wehrlosen Nesseltierchen.

Eine Qualle, die wie eine gläserne Glocke aus zartem transparentem Glas schwebt, hell, sternförmig durchädert mit hauchdünnen Tentakeln.

Eine Ohrenqualle

Wo man Glibber liebt und wo nicht

Quallen sind giftig und gefürchtet bei Badegästen. Aber das ist nicht alles: Quallen können auch Kühlwassersysteme von Schiffen, Industrieanlagen und Kraftwerken lahmlegen, wenn sie tonnenweise die Anlagen verstopfen.

So blockierten sie zum Beispiel 1976 ein Kernkraftwerk in Westschweden. Pro Sekunde wurden 300 Tiere mit dem Kühlwasser angesaugt. 50 Tonnen Quallen pro Stunde mussten aus den Filtern entfernt werden.

Auch Fischen können sie gefährlich werden. In der Kieler Bucht schrumpfte der Heringsbestand um die Hälfte, nachdem sich Schwärme von Ohrenquallen über die Heringsbrut hergemacht hatten. 40 Heringslarven zählen zur Tagesration einer Qualle.

Aber nicht überall sind Quallen so unbeliebt. In Japan und China stehen die Glibbertiere auf dem Speiseplan: getrocknet und frittiert oder als Salat.

(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 25.03.2020)

Quelle: WDR

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