Deutscher Bundestag
Parlamentarismus – wenn das Volk die Regierung wählt
Dass die Regierung vom Volk gewählt wird, ist für uns heute selbstverständlich. Doch vor 200 Jahren mussten sich deutsche Politiker und Bürger diese Form der Mitbestimmung hart erkämpfen.
Von Martina Frietsch
Ruf nach politischer Selbstbestimmung
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich ganz Europa im Umbruch – so auch die deutschen Staaten. Das Ende von Napoleons Herrschaft führte dazu, dass der Ruf nach Modernisierung, nach nationaler Einheit und politischer Selbstbestimmung laut wurde.
Auf dem Wiener Kongress 1814/1815 wurde die politische Neuordnung Europas beschlossen. Doch auch danach kam es nur ansatzweise zu Neuerungen. Die deutschen Fürsten riefen keinen Nationalstaat ins Leben, sondern den "Deutschen Bund". Das einzige Bundesorgan, die Bundesversammlung in Frankfurt am Main, wurde nicht vom Volk gewählt. Stattdessen schickten die einzelnen Staaten Gesandte.
Nur wenige Staaten erließen Verfassungen, wie in der Bundesakte – der Gründungsurkunde – vorgesehen. Dies war vor allem in den süddeutschen Staaten der Fall. Die Landtage, die daraufhin eingerichtet wurden, waren jedoch keineswegs frei gewählte Parlamente. Sie bestanden aus Adel, Würdenträgern und Vertretern bestimmter sozialer Gruppen.
1848 – das erste gesamtdeutsche Parlament
Die Kritik an der bestehenden Ordnung riss nicht ab: 1817 kam es zur ersten gesamtnationalen Veranstaltung, dem Wartburgfest, bei dem sich rund 500 Studenten versammelten. Zu Protesten und schließlich Unruhen trug neben der politischen Unterdrückung auch die miserable wirtschaftliche Situation im so genannten Vormärz bei.
1848 mündeten die Unruhen in eine Revolution, die etliche Länder Europas erfasste. In den deutschen Staaten gaben die Machthaber den so genannten Märzforderungen schließlich nach: Die Einberufung einer Nationalversammlung wurde zugelassen.
Sie sollte nach dem allgemeinen und gleichen Mehrheitswahlrecht von den volljährigen Männern gewählt werden, die mindestens sechs Monate an ihrem Wohnort lebten und keine Armenunterstützung bezogen.
Erste Sitzung des deutschen Parlaments 1848
Am 18. Mai 1848 tagte in der Frankfurter Paulskirche zum ersten Mal das erste gesamtdeutsche Parlament. Ziel der Parlamentsarbeit war die Schaffung eines deutschen Nationalstaats mit freiheitlicher Verfassung.
So wurde bereits im Dezember 1848 ein Gesetz verabschiedet, das den Menschen zum ersten Mal Grundrechte wie Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantierte, die Gleichheit vor dem Gesetz und vieles mehr.
Ende März 1849 wurde die Reichsverfassung verabschiedet, Staatsoberhaupt sollte der Kaiser werden. Der Reichstag, bestehend aus Staatenhaus und demokratisch gewähltem Volkshaus, sollte für die Gesetzgebung, das Haushaltsrecht und die Kontrolle der Exekutive zuständig sein.
Die deutsche Revolution scheitert
In der Praxis ließen sich die Beschlüsse des Paulskirchen-Parlaments nicht umsetzen. König Friedrich Wilhelm IV. lehnte das Kaiseramt ab und in der Bevölkerung schwand der Rückhalt für die Revolutionäre. Im Mai 1849 löste sich das Parlament nach nur einjähriger Existenz wieder auf.
Ein Teil der Parlamentarier verlegte die Arbeit nach Stuttgart, ins sogenannte Stuttgarter Rumpfparlament, um so die Reichsverfassung doch noch zu verteidigen. Jedoch ohne Erfolg: Nach der gewaltsamen Auflösung des Parlaments und der Eroberung der badischen Festung in Rastatt im Sommer 1849 war die Revolution endgültig gescheitert.
Beginn des Badischen Aufstands in Rastatt
Der Reichstag im Kaiserreich
Nach dem Sieg über die französische Armee wurde 1871 das Deutsche Reich ausgerufen. Mit der Verfassung, die im gleichen Jahr in Kraft trat, entstand erneut parlamentarisches Leben.
Der Reichstag wurde in allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Mehrheitswahlen gewählt. Zur Wahl zugelassen waren deutsche Männer über 25 Jahren. Der Reichskanzler wurde allerdings nicht vom Parlament gewählt, sondern vom Kaiser ernannt.
Die Regierung brauchte sowohl bei Gesetzen als auch bei der Verabschiedung des Haushalts die Zustimmung des Parlaments. In dieser Zeit entstanden umfangreiche Gesetzeswerke, mit denen die Parlamentarier die Grundlagen für den heutigen Sozialstaat legten, so beispielsweise die Kranken-, Unfall- und Altersversicherung.
Das Parlament gewann mit der Zeit an Einfluss gegenüber der Regierung und dem Bundesrat, in dem die einzelnen Staaten vertreten waren. Zu einer Änderung der Verfassung kam es jedoch erst nach Ende des Ersten Weltkriegs.
Der Reichstag in der Weimarer Republik
Nach dem Ersten Weltkrieg brachte die Novemberrevolution von 1918 endgültig den politischen Wandel: Am 9. November 1918 rief der sozialdemokratische Politiker Philipp Scheidemann die Republik aus – Deutschland war nun kein Kaiserreich mehr, sondern eine parlamentarische Demokratie. Der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., ging ins Exil.
Die neue Verfassung wurde in Weimar verabschiedet und begründete so den Namen "Weimarer Republik", auch wenn Berlin weiterhin die Hauptstadt blieb.
Der Reichstag wurde für jeweils vier Jahre gewählt. Den Reichspräsidenten, der wiederum den Kanzler ernannte, wählte das Volk direkt.
Philipp Scheidemann ruft die Republik aus
Bereits in den Anfangszeiten der Weimarer Republik kam es zu zwei großen Veränderungen: Das Mehrheitswahlrecht, das die kleinen Parteien benachteiligte, wurde durch das Verhältniswahlrecht abgelöst. Und: Erstmals durften auch Frauen wählen und gewählt werden.
Gefestigt war die erste parlamentarische Demokratie Deutschlands jedoch noch lange nicht. Etliche im Parlament vertretene Parteien waren entschiedene Gegner der Demokratie.
Die meisten Parteien hatten – anders als heute – kein Parteiprogramm, sondern vertraten eine bestimmte gesellschaftliche Schicht oder Gruppe. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft und instabile Koalitionen prägten die parlamentarische Arbeit.
Als nach dem Aufstieg der NSDAP zur stärksten politischen Kraft 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, kam der Parlamentarismus in Deutschland quasi zum Erliegen. Der Reichstag tagte zwar noch bis 1942, allerdings als völlig machtloses Einparteienparlament.
1949 – der Bundestag im Westen
Die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit führten in der Bundesrepublik dazu, dass das Parlament wesentlich gestärkt wurde. Der deutsche Bundestag wird in allgemeiner, freier, gleicher, geheimer und unmittelbarer Wahl für vier Jahre gewählt. Er wählt seinerseits den Bundeskanzler und stellt die Hälfte der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt.
Eine wesentliche Neuerung war die Fünf-Prozent-Hürde, die zunächst nur auf Landesebene galt, später auch auf Bundesebene. Sie sollte eine Parteienzersplitterung wie in der Weimarer Republik verhindern, die die Parlamentsarbeit erschweren würde.
Parlamentseröffnung in Bonn 1949
Die Grundzüge der heutigen parlamentarischen Arbeit – die Vorarbeit in Fraktionen und Ausschüssen – wurden bereits früh gelegt: Bereits die Nationalversammlung 1848 hatte sogenannte Klubs, Vorläufer der heutigen Fraktionen. Auch im Reichstag der Weimarer Republik wurde die Arbeit in ständigen Ausschüssen organisiert, statt jedes Thema komplett im Plenum zu behandeln.
1949 – die Volkskammer im Osten
Der Osten Deutschlands ging nach dem Ende der Nazi-Herrschaft einen anderen Weg: Aus den Volkskongressen, die es ab 1947 gab, ging im Oktober 1949 die erste provisorische Volkskammer hervor. Das Parlament der DDR wählte unter anderem den Vorsitzenden und die Mitglieder des Ministerrats der DDR.
Die Volkskammer legte die Grundsätze der Politik und vor allem die Volkswirtschaftspläne fest. Bei den Wahlen zur Volkskammer waren zwar auch andere Parteien als die herrschende SED zugelassen, sie erhielten ihre Sitze jedoch nicht nach Stimmenanzahl bei der Wahl, sondern nach einem festgelegten Schlüssel zugeteilt.
Um echte Wahlen handelte es sich in der DDR jedoch nicht: Oppositionelle Parteien waren nicht zugelassen. Die vier weiteren Parteien, die zur Wahl antreten durften und in der Volkskammer vertreten waren, wurden mit der SED zu einem sogenannten Block zusammengeschlossen, der "Nationalen Front".
Sie folgten, ebenso wie die in der Volkskammer vertretenen Massenorganisationen (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Freie Deutsche Jugend und andere) der Linie der SED. Oftmals gehörten die Abgeordneten der Organisationen auch der SED an. Somit sicherte sich die SED die uneingeschränkte Macht im Parlament.
Tagung des Deutschen Volksrates (1949)
Gesamtdeutsches Parlament
Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten endete das parlamentarische System der DDR. Am 20. Dezember 1990 kam der erste gesamtdeutsche, drei Wochen zuvor gewählte Bundestag in Berlin im Reichstagsgebäude zusammen.
Das parlamentarische System der Bundesrepublik fand seine Fortsetzung – nun erweitert um die Abgeordneten der neuen Bundesländer und um eine weitere Partei: die SED-Nachfolgepartei "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS).
Während die Aufgaben und Arbeitsweisen des Bundestags grundsätzlich die gleichen bleiben, geht es heute bei der Parlamentsarbeit oft um die Frage, wann der Bundestag an Entscheidungen beteiligt werden muss und wann die Regierung allein entscheiden darf.
So muss der Bundestag möglichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr erst zustimmen. Auch beim sogenannten Euro-Rettungsschirm muss künftig der Haushaltsausschuss des Bundestages seine Zustimmung geben.
Andere Entscheidungen, die Deutschland betreffen, liegen nicht mehr in der Zuständigkeit des Parlaments: Da Deutschland der Europäischen Union (EU) angehört, werden viele Entscheidungen in Brüssel getroffen. Dem Bundestag bleibt oft keine Entscheidungsmöglichkeit mehr, sondern nur die Aufgabe, die EU-Richtlinien in deutsches Recht umzusetzen.
Erste Sitzung des gesamtdeutschen Parlamentes
Quelle: SWR | Stand: 06.01.2020, 14:13 Uhr