Kindheit im Mittelalter
Planet Wissen. 23.04.2024. 02:28 Min.. UT. Verfügbar bis 07.06.2028. WDR.
Leben im Mittelalter
Stadtarchäologie
Eine Stadt aus dem Mittelalter: bunte Giebel, herausgeputzte Fachwerkfassaden und romantisch enge Gassen. Doch vom Alltagsleben der Menschen im Mittelalter erzählen nur die wenigsten Quellen. Zum Glück gibt es andere Spuren über und unter der Erde.
Von Ermengard Hlawitschka-Roth
Mit Entdeckerlust in die Tiefe
Praktisch der gesamte Untergrund einer Stadt dient der Stadtarchäologie, auch Stadtkernforschung genannt, als Untersuchungsfeld. Dabei ist es meist der Zufall, der die Archäologen auf den Plan ruft: Bauarbeiter, die bei der Anlage von Tiefgaragen, Straßentunnels oder Kabelschächten auf Mauerreste oder Knochenfunde im Erdreich stoßen.
Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn Graben bedeutet unweigerlich eine Verzögerung im Bauvorhaben und nicht jeder Bauträger ist ein Fan der Archäologie.
So kommt es zu sogenannten Notgrabungen. Diese versuchen, in kürzester Zeit so viele aussagekräftige Informationen wie möglich zu sichern. Dabei handelt es sich weniger um echte Grabungen als vielmehr um eine kurze Bestandsaufnahme der archäologischen Schichten.
Stadtarchäologen bei der Arbeit in Leipzig
Ob Notgrabung oder gezielte Grabung: Die untersuchten Schichten sind für die Archäologen von besonderer Bedeutung. Denn sie ergeben in ihrer Gesamtheit eine Epochenübersicht, die sich im Schnitt durch die Erde aufblättert. Ältere Schichten liegen unten, jüngere oben.
Stadtbrände schlagen sich in schwarzgefärbten Asche- oder Brandschichten nieder. Da solch verheerende Ereignisse meist auch schriftlich überliefert wurden, ist es möglich, die in einer solchen Schicht geborgenen Funde genau zu datieren.
Auch die unmittelbar angrenzenden Schichten können so bestimmt werden: als "ante quem", vor dem Ereignis, oder "post quem", danach.
Spuren im Boden
Im Boden ist einiges zu entdecken, das direkt auf das Leben früherer Stadtbewohner verweist: Mauerreste belegen Steinbauten oder Keller, Verfärbungen im Boden erzählen von vergangenen Fachwerkkonstruktionen aus Holz, Löcher zeigen ehemalige Pfostenstellungen an und Herdstellen künden von der einstigen Nutzung des Gebäudes.
Werkstattabfälle verraten den Beruf des Grundstückeigentümers, Tonscherben geben Auskunft über das benutzte Essgeschirr und über handwerkliche Fertigungstechniken vergangener Zeiten.
Und auch dort, wo schriftliche Quellen über die Gründung oder Anlage einer Stadt fehlen, hilft die Archäologie weiter. Sie kann erkennen, wo Befestigungsanlagen und Straßen waren, wo hölzerne Verkaufsbuden standen oder durch steinerne Bauten ersetzt wurden.
Stadtarchäologen finden auch Gegenstände, die weggeworfen wurden oder verloren gegangen sind: beispielsweise Gläser, Schuhwerk, Kleiderreste, Metallobjekte, Pflanzenreste oder Knochen von Mensch und Tier. Funde, die ein sehr lebendiges Bild vom alltäglichen Leben in der Stadt liefern, von Handel und Handwerk erzählen, aber auch vom architektonischen Wandel der Häuser.
Historiker als Kanalarbeiter
Eine wahre Fundgrube für die Archäologen sind die tiefen und engen Schächte von Brunnen und Latrinen, also den "Plumpsklos" von damals. Sie wurden nämlich nicht nur als Entsorgungsschacht für Fäkalien genutzt, sondern auch als Mülltonne. Zerbrochenes Geschirr, Speisereste oder das, was am "Örtchen" zufällig aus der Tasche fiel, landete in der Latrine.
Falls eine Latrine für eine lange Zeit vor Zerstörungen durch Baumaßnahmen, Katastrophen oder Kriege geschützt wurde, konnte das feuchte Klima für eine gute Konservierung von Gegenständen aus Holz, Leder oder Stoff sorgen.
Was eine Latrine alles erzählen kann? Sie verschafft uns ungeahnte Einblicke in die ganz privaten Lebensbereiche längst verstorbener Menschen.
So geben beispielsweise Pflanzenreste Aufschluss über bestimmte Essgewohnheiten und die damals üblichen Getreide-, Gemüse- und Obstsorten. Obstkerne verraten, dass es im Mittelalter mehr als 50 verschiedene Pflaumensorten gab. Getreidereste zeigen, dass bei "Otto Normalverbraucher" Brot und Getreidebrei täglich auf dem Speiseplan standen.
Knochenreste von Wildvögeln oder Haustieren erlauben genauso wie Scherben vom Essgeschirr einen Blick auf den sozialen Stand des Hauseigentümers: Fleisch war kostbar und zum täglichen Verzehr nur den Reichen vorbehalten. Für die Zubereitung solcher Mahlzeiten war meist ein eigener Koch angestellt.
Selbst die kleinen und größeren "Zipperlein" der einstigen Hausbewohner können Archäologen heute noch aufdecken. In den Latrinen-Proben finden sie die Krankheitserreger von damals und auch das, was damals als Toilettenpapier diente: Moos.
Latrinen schaffen Einblicke in das Privatleben Verstorbener
Analysen, die unter die Haut gehen
Oft sind Knochenreste oder vollständig erhaltene Skelette Bestandteil eines Fundkomplexes. Sie sind die wichtigste Quelle, die über Lebensbedingungen früherer Epochen Aufschluss geben. Knochenstruktur, -form und -größe können heute genau analysiert und ausgewertet werden.
Die Größe und Form der Beckenknochen verraten das Geschlecht des Verstorbenen, die Länge eines Beinknochens seine Körpergröße. Und je nach Verknöcherungsgrad der Fontanellen (knöcherne Strukturen im Schädelbereich) ist auch das Alter des Betroffenen rekonstruierbar.
Verformungen an Knochen können Hinweise auf Erkrankungen, Verletzungen, aber auch deren Behandlungen (zum Beispiel Amputationen und Schädelöffnungen) sein. Selbst Vitamin C- und Eisenmangel zeichnen sich in winzigen Spuren auf den Knochen ab.
Am deutlichsten spiegeln jedoch die Zähne die Lebensumstände von damals wider: Waagerechte Rillen deuten auf überstandene Hungersnöte im Kindesalter hin. Stark abgenutzte Kauflächen der Backenzähne verraten, dass Brot und Getreidebrei feine Steinpartikel enthielten, die beim Mahlen des Getreides ins Mehl gelangten und dann mitgebacken wurden.
Die Funde geben Auskunft über Leben und Sterben
(Erstveröffentlichung 2003, letzte Aktualisierung 26.06.2019)
Quelle: SWR