Tödlicher Vitaminmangel
Planet Wissen. 11.03.2024. 01:55 Min.. UT. Verfügbar bis 28.10.2025. WDR. Von Jan Voelkel.
James Cook
Skorbut
Sie fürchteten nicht Piraten und Krieg. Die größte Angst hatten Seeleute vor einer seltsamen Krankheit, die ihre Zähne faulen ließ, ihre Kraft und letztlich ihr Leben nahm – Skorbut.
Von Katharina Beckmann
Der Kapitän als Vorkoster
Die Bezeichnung für die Krankheit stammt von "scorbutus", dem lateinischen Wort für Mundfäule. Erst im 18. Jahrhundert erkannte man, dass Skorbut eine ernährungsbedingte Krankheit ist und Sauerkraut ein Gegenmittel.
Kapitän James Cook kannte seine Männer genau: Diese Speise würde ihnen nicht schmecken. Mit Alkohol ließen sie sich bei Laune halten. Und mit süßen Sachen. Wie aber sollte er das saure Kraut in sie hineinbekommen? Ratlos saß er an einem Abend 1776 in seiner Kombüse, als ihm eine Idee kam.
Gleich am nächsten Tag lud er seine Matrosen in die Offiziersmesse ein. In großen Töpfen ließ er Sauerkraut auffahren, Cook schlang das Gemüse in sich hinein. Statt Bier trank er verdünnten Zitronensaft.
Die Matrosen schauten ihn ungläubig an – dann schlugen auch sie zu. Denn was der Kapitän aß, musste schließlich eine Delikatesse sein. Cook saß genüsslich grinsend vor seinem Teller.
Die rätselhafte Krankheit
Dass sich mit Sauerkraut und Saft Skorbut besiegen ließ, hatten britische Schiffsärzte herausgefunden. Und tatsächlich: Als erstem großen Kapitän gelang es Cook, seine Besatzung fast frei von dieser Krankheit zu halten – ungewöhnlich in einer Zeit, in der bis zu drei Viertel einer Besatzung auf großer Fahrt starb.
Denn bis ins 18. Jahrhundert hatte niemand dieser rätselhaften Krankheit etwas entgegenzusetzen, auch die besten Ärzte nicht. Sie beobachteten nur den immer gleichen Verlauf.
Etwa nach drei Monaten auf See fing es an: Die Männer wurden müde. Einige klagten über Muskelschmerzen, andere bekamen plötzlich große purpurfarbene Flecken, ihre Haut war blutunterlaufen.
Der Seefahrer Jacques Cartier schrieb 1542 während einer Expedition des St.-Lorenz-Stroms in sein Logbuch: "Es ist fürchterlich: Ihr Zahnfleisch wurde so faul, dass alles Fleisch bis zu den Wurzeln der Zähne abfiel und diese beinahe alle ausfielen. Mit solcher Ansteckungskraft breitete sich die Krankheit über unsere drei Schiffe aus, dass Mitte Februar von den 100 Personen, die wir waren, keine zehn mehr gesund waren."
James Lind entdeckt 1753, dass Sauerkraut Skorbut-Kranke heilt
Entschlüsselung des Rätsels
Dass es am schlechten Essen an Bord liegen könnte, am Fleisch, das so stark gesalzen ist, dass es die Ratten abschreckt, am Schiffszwieback, so hart gebacken, dass nicht einmal die Maden ihn fressen mögen, am fauligen Wasser – lange Zeit denkt niemand daran. Erst 1753 kommt Dr. James Lind, ein Arzt der britischen Marine, auf diese Idee.
Lind gibt zwölf an Skorbut erkrankten Matrosen eine Kost, die er mit verschiedenen Nahrungsmitteln kombiniert: Je zwei Männer erhalten Apfelwein, zwei verdünnte Schwefelsäure, ein Duo bekommt Essig, ein anderes Meerwasser, Orangen und Zitronen oder eine Medizin, mit denen sie ihren Gaumen spülen können.
Akribisch notiert der Arzt jede Veränderung, die er ausmacht. Schon nach wenigen Wochen fällt ihm auf, dass bei den Männern, die Zitrusfrüchte erhalten haben, die Flecken zurückgehen und das Zahnfleisch wieder wächst.
James Lind setzt seine Versuchsreihe fort. Und in der Folgezeit erweisen sich auch frische Kartoffeln, Sauerkraut und Kräuter als wirksame Mittel gegen Skorbut. Lind informiert die Kapitäne der Navy, legt Listen mit Nahrungsmitteln aus, die an Bord der Schiffe geladen werden sollten.
Wer Sauerkraut isst, muss Skorbut nicht fürchten
James Cook, der sich 1776 auf seine dritte Expedition macht, hält sich als erster Seefahrer an diese Listen. Unmengen von Sauerkrautfässern lässt er in den Bauch seiner klobigen Schiffe rollen und kistenweise Zitronen stapeln.
Alle folgenden Expeditionsleiter machen es dem erfolgreichen Entdecker nach und servieren ihren Männern zu jeder Mahlzeit Zitronen-, später auch Limonensaft.
Rasch spricht sich diese Gewohnheit herum und die englischen Matrosen sind als "lime-juicers", als "Limonensaftler", in aller Munde. "Limey" sagt ein Amerikaner noch immer zu einem Briten, von dem er nicht viel hält.
Skorbut-Killer Vitamin C
Den englischen Seeleuten sind solche Anfeindungen im 18. Jahrhundert egal, sie schwören auf die heilsame Wirkung der Zitrusfrüchte – die sie beobachten, aber nicht erklären können.
Erst Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es erste Erklärungen: 1919 schlägt der Brite Jack Drummer vor, dieses Skorbut bekämpfende Etwas in frischen Früchten mit dem Buchstaben C zu versehen. 1927 gelingt es dem ungarischen Biochemiker Albert Szent-Györgyi, Vitamin C aus Paprika zu isolieren.
Mittlerweile ist bekannt, wie dieser Stoff wirkt, der auch als Ascorbinsäure bekannt ist und übersetzt "Vermeidung von Skorbut" bedeutet. Fehlt dem Körper lange Zeit – drei, vier Monate – Vitamin C, kann er kein Kollagen produzieren. Dieser Eiweißstoff stützt das Bindegewebe im menschlichen Körper.
Ohne Kollagen reißen die Adern auf, fällt das Zahnfleisch ein, blutet die Nase: typische Anzeichen für Skorbut. James Cook bat seine Leute, jeden Tag danach zu sehen. Doch von Krankheitsfällen wird er verschont. "Ein großes Glück", notiert er in seinem Logbuch.
Die Seuche der Seefahrt gilt heute als besiegt. An Skorbut erkrankt kein Matrose mehr – die modernen Schiffe sind mit frischen Früchten, Powerriegeln und Vitamin-C-Tabletten ausgestattet. Manchmal tritt Skorbut nach langer Hungersnot auf, oder in Regionen, in denen sich Menschen ausschließlich von Reis ernähren, von Weißbrot und vitaminfreien Konserven.
Als Medizin gegen Skorbut verordnen die Ärzte heute auch noch immer Frisches, mit Vorliebe Sauerkraut und Zitronen. Denn sauer macht nicht nur lustig – die Stimmung in James Cooks Kapitänsmesse war hervorragend. Sauer, und darauf schwor der Kapitän, hält vor allem gesund.
Englische Seeleute aßen massenhaft Zitronen
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 08.04.2020)
Quelle: WDR