Weiche Häute dank Hirn und Urin
Tiere haben gegenüber dem Menschen einen großen Vorteil: Sie sind körperlich so ausgestattet, dass sie in der freien Natur überleben können. Menschen hingegen sind dafür nur unzureichend gerüstet – das wussten bereits unsere Vorfahren der Altsteinzeit. Sie begannen, fremde Materialien, vor allem Tierhäute, als Schutz vor Wind und Wetter zu nutzen.
Doch bald merkten die Steinzeitmenschen, dass unbearbeitete, rohe Haut entweder nach kurzer Zeit steinhart wird oder zu faulen beginnt. Also entwickelten sie erste Methoden, um die enthaarten Felle haltbarer und geschmeidiger zu machen: Während des Trocknens wurden die Häute weiter abgeschabt und gestreckt.
Um 8000 vor Christus verwendeten die Menschen außerdem Knochenmark, Tierhirn oder Urin, um die Häute weich zu machen. Sie kneteten diese wochenlang und rieben sie dazu immer wieder mit Fett ein – mit Unterhautfett, das sie vor dem Trocknen von der Tierhaut entfernt hatten. Ähnliche Methoden finden sich noch heute in einigen Gegenden der Erde, unter anderem in Asien und in den Polarländern.
Schon die Steinzeitmenschen beherrschten die Gerberei
Gerbmethoden der Ägypter
Echtes Leder – also gegerbte Tierhaut, wie man sie heute kennt – wurde zuerst in Ägypten hergestellt. Wissenschaftler entdeckten dort eine 5000 Jahre alte Gerberwerkstatt mit halbfertigem Leder, Gerberwerkzeugen und Schoten der Arabischen Akazie. Die Schoten hatten unzweifelhaft den Gerbstoff für die Häute geliefert, denn die Reste davon fand man im Leder.
Doch die Ägypter kannten nicht nur die pflanzliche Gerbung, sondern bearbeiteten Tierhäute auch mit Mitteln auf Mineral- und Ölbasis. So wurde sogar extra Sesamöl aus Syrien importiert, weil es reich an ungesättigten Fettsäuren und deshalb besonders gut für die Lederherstellung geeignet war.
Der Gerberberuf war hoch angesehen, Lederartikel waren so wertvoll wie Gold oder Elfenbein. Ägypter aus höheren Gesellschaftsschichten trugen oft Sandalen. Deren Herstellung war relativ aufwändig – bis im Römischen Reich neue Gerbverfahren entwickelt wurden, mit deren Hilfe Lederartikel einfacher produziert werden konnten. Somit konnten sich nun auch einfache Leute Ledersandalen leisten.
Die Ägypter experimentierten mit verschiedenen Ölen
Ein Römer als Schutzpatron der Gerber
Auch das römische Militär verwendete für seine Ausrüstung viel Leder – die Schuhe der Soldaten waren aus diesem Material, und zur Uniform gehörten lederne Kappen. Ein Römer hat bis heute eine besondere Bedeutung für Schuhmacher und Gerber: Um 300 nach Christus lebte der Legende nach Krispin, Sohn einer vornehmen römischen Familie, der das Schuhmacherhandwerk erlernte und anschließend kostenlos Schuhe für die Armen fertigte. Gleichzeitig bekehrte er sie zum Christentum – wofür er gefoltert und schließlich enthauptet wurde. So wurde er als Märtyrer zum Schutzpatron der Gerber und Schuhmacher.
Von 300 nach Christus an stand der Lederhandel bis zum Untergang des Römischen Reichs unter der Aufsicht Roms. Inzwischen hatte man die Alaungerbung wiederentdeckt, die bereits von den Ägyptern angewandt worden, jedoch zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten war.
Dieses mineralische Verfahren – als Alaune bezeichnet man schwefelsaure Doppelsalze chemischer Elemente – war besonders für die Herstellung von weichem und geschmeidigem Leder geeignet. Übrigens: Im Grab Tutanchamuns fand man alaungegerbtes Leder in gutem Zustand.
Sankt Crispinus, Schutzpatron der Gerber
Gerberei im Mittelalter – ein harter Job
Nach dem Ende des Weströmischen Reichs im Jahr 476 nach Christus übernahmen die aufstrebenden Franken die Kontrolle über Lederherstellung und -handel in Europa. Karl der Große, der 768 an die Macht kam, erließ eine Steuer auf einige Lederprodukte. Insgesamt war die Produktion in Europa im Vergleich zu Nordafrika und Asien relativ rückständig, und zwar sowohl bezogen auf die Menge als auch auf die Qualität.
Im 13. Jahrhundert berichtete der venezianische Weltreisende und Kaufmann Marco Polo nach seiner Rückkehr aus Asien von der dortigen Kunst der Lederherstellung – beispielsweise von einem Enkel Dschingis Khans, der in einem mit Hermelinfellen überzogenen Lederzelt lebte und vergoldete Lederkleidung trug.
Auch in Europa begann man im Mittelalter, die Herstellungstechniken zu verbessern und die mit Poren durchsetzte Tierhaut zu glätten. Der Beruf des Gerbers war zu dieser Zeit kein Zuckerschlecken, sondern schwere körperliche Arbeit.
Meist lagen die Gerbereien an Flüssen oder Bächen, in denen die Häute bearbeitet wurden. Ständiges Stehen im kalten Wasser, das Schleppen der schweren Häute und kontinuierlicher Gestank prägten das Handwerk – und machten die Gerber krank. Rheuma, schwere Erkältungen und Infektionen waren an der Tagesordnung.
Auch heute noch ist traditionelles Gerben harte Arbeit
Bahnbrechende Entwicklung im 19. Jahrhundert
Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts stieg die Zahl der Gerber stark an, das bis dahin vor allem in größeren Städten betriebene Handwerk breitete sich auch auf dem Land aus. Ab 1750, als nach und nach handwerkliche Großbetriebe und Manufakturen entstanden, näherte man sich in Europa der Lederherstellung von der wissenschaftlichen Seite, um die Gerbverfahren zu optimieren.
Dabei war die Gerbung mit Chromsalzen, die von Professor Friedrich Knapp 1858 beschrieben wurde, die Entdeckung mit dem größten Einfluss auf die Produktion – bis heute. Denn sie reduziert die Dauer des Gerbprozesses auf wenige Stunden, und das Leder wird dabei sehr viel weicher.
Gleichzeitig ist es gegenüber pflanzlich gegerbtem Leder doppelt so reißfest und auch noch leichter: Der Gerbstoff macht nur 1,5 bis vier Prozent des Gewichts aus, bei pflanzlich behandeltem Leder sind es 20 Prozent. Zudem lässt sich chromgegerbtes Leder gut transportieren und lagern, sodass ein unbegrenzter internationaler Vertrieb und weltweite Weiterverarbeitung möglich sind.
Traditionelle Werkzeuge: Schlichtmond, Streich- und Falzeisen
(Erstveröffentlichung 2010. Letzte Aktualisierung 14.05.2020)
Quelle: WDR