Mit Beharrlichkeit ins Kanzleramt
Das "Aussitzen" galt vielen als herausragendes Kennzeichen seines Politikstils: Helmut Kohl (CDU) taktierte, zögerte und schob Probleme und offene Fragen vor sich her, bis sich diese von alleine erledigt hatten oder leichter zu entscheiden waren.
Zu dieser Taktik griff er nicht erst, als er Regierungschef im Kanzleramt wurde. Genau genommen verhalf ihm seine Beharrlichkeit überhaupt erst dorthin.
Kohls erste und wichtigste Phase des Aussitzens dauerte sechs Jahre und begann 1976. Als Kanzlerkandidat der CDU schrammte er mit einem überragenden Ergebnis von 48,6 Prozent knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt blieb, wenn auch geschwächt, im Amt.
Kohl war der starke Führer einer Opposition, die nur darauf warten musste, bis die SPD/FDP-Regierung auseinanderbrach – so seine Vorstellung. Die Liberalen (FDP) kämen dann schon wieder zu ihrem "natürlichen" Koalitionspartner (den Unionsparteien CDU und CSU).
Und tatsächlich: Es knirschte mächtig zwischen den Regierungsparteien. Vor allem Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) wurde immer wieder eine Nähe zur Union und seinem Duzfreund Kohl nachgesagt, den er aus gemeinsamen Tagen im ZDF-Verwaltungsrat kannte.
Franz Josef Strauß, ein Parteifreund als Gegenspieler
Allerdings gab es auch in der Union starke Differenzen nach der so knapp verlorenen Wahl. Die CSU wollte mehr Eigenständigkeit und beschloss, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag aufzulösen. Erst Kohls Drohung, die CDU als Konkurrenz zur CSU in Bayern zu etablieren, disziplinierte die Schwesterpartei.
Dennoch ging CSU-Chef Franz Josef Strauß aus dem Konflikt als Sieger hervor – Kohls Ansehen hingegen war beschädigt. Strauß lästerte offen über Kohls "Unfähigkeit" und inszenierte sich als heimlicher Herrscher der Union.
Kohls Problem erledigte sich von selbst: Er überließ Strauß den Vortritt als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl von 1980. Strauß verlor gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt und zog sich nach Bayern zurück. Und Kohl? Seine Position war gestärkt – dank der Aussitz-Taktik.
Das Ende der sozialliberalen Koalition
Schon die Koalitionsverhandlungen 1980 zwischen SPD und FDP gestalteten sich schwierig. Der wirtschaftsliberale FDP-Flügel um Otto Graf Lambsdorff entfernte sich immer weiter von der Linie der SPD, die ständig neue Schulden machte, um die wirtschaftlichen Probleme zu bekämpfen. Und auch in der Außenpolitik gab es ständig Differenzen.
Kohl witterte seine Chance. Die Kontakte zu den Liberalen hatte er schon zuvor gepflegt, auch als er auf der Oppositionsbank saß. Offiziell hielt er im Sommer 1982 sichtbaren Abstand zur FDP-Spitze.
Allerdings versicherte er Genscher in einem kurzen Gespräch vieldeutig: "Im Übrigen musst du wissen, dass du nicht ohne Netz turnst." Die FDP könne also auf die Unterstützung der Union setzen, falls es zu einem vorzeitigen Ende der Regierungskoalition käme.
Im September 1982 folgte dann der Bruch: Wirtschaftsminister Lambsdorff (FDP) schickte Bundeskanzler Helmut Schmidt ein wirtschaftspolitisches Konzept, das unvereinbar mit der SPD-Politik war – und als "Scheidungspapier" interpretiert wurde.
Die vier FDP-Minister traten zurück, und am 1. Oktober 1982 kam es im Bundestag zu einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Kanzler Schmidt. Helmut Kohl erhielt 256 der 495 gültigen Stimmen und wurde somit zum neuen Bundeskanzler gewählt. Nach sechs Jahren des Aussitzens war er endlich am Ziel.
Kohls Lösung: eine "geistig-moralische Wende"
Für Kohl war damit nicht bloß eine neue Koalition an der Macht. Der Regierungswechsel sei eine "geistig-moralische Wende", sagte er mehrmals. Er sah seinen Politikstil als vom Zeitgeist abgekoppelt und plädierte für die Rückbesinnung auf Werte, Traditionen und bürgerliche Tugenden.
Deutschland befinde sich seit mehr als einem Jahrzehnt – er meinte damit die SPD-Regierungsjahre – in einer "geistig-moralischen Krise". Das nationale Selbstverständnis sei verunsichert, ebenso wie das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte, zu Staat und Recht, und zu vielen grundlegenden ethischen Werten und sozialen Tugenden.
Kohl stehe für eine neue Sicherheit. Er wolle "Ehrlichkeit, Leistung und Selbstverantwortung" eine neue Chance geben.
Bestätigung durch die Wähler
Kohl ernannte im Eilschritt eine Regierungsmannschaft, ließ ein Programm schreiben und stürzte sich in die Arbeit. Allerdings hatte sein Amt einen Makel – auch in den Augen des Kanzlers: Er war zwar parlamentarisch durch den Bundestag legitimiert, aber eben nicht direkt durchs Volk.
Als strenger Verfechter demokratischer Prinzipien suchte Kohl die unmittelbare Bestätigung. Im Dezember 1982 stellte er im Bundestag die Vertrauensfrage, die Mehrheit der Abgeordneten von Union und FDP enthielt sich. Damit war der Weg für Neuwahlen im März 1983 frei.
Mit 48,8 Prozent erzielte die Union ein Traumergebnis. Kohl sah sich und seine Politik bestätigt und machte sich voller Elan an die Regierungsarbeit, um Deutschland zur versprochenen Wende zu verhelfen.
Der Schwung und die Hoffnungen, die seine Wähler mit Kohl verbanden, gingen allerdings schnell verloren. Kohl agierte unbeholfen und entscheidungsschwach. Er saß die Probleme aus, mal wieder.
Ende 1983 erreichte die Flick-Spendenaffäre die höchsten Kreise von Union und FDP: Wirtschaftsminister Lambsdorff trat zurück, Kohl wurde vor den Untersuchungsausschuss zitiert, wo er eine Falschaussage machte.
Die CDU versuchte dies als "Blackout" darzustellen, doch spätestens jetzt fiel Kohl sein hoher ethischer Anspruch vor die Füße: Den Begriff der "geistig-moralischen Wende" benutzten fortan nur noch seine Kritiker – mit Hohn.
(Erstveröffentlichung 2013. Letzte Aktualisierung 31.03.2020)