Adoptivkinder
Zwangsadoptionen in der DDR
Wer in der DDR die "öffentliche Ordnung durch asoziales Verhalten" gefährdete, dem drohte nicht nur eine Gefängnisstrafe. Der Staat konnte dann sogar die Kinder wegnehmen und zur Adoption freigeben. Wie viele solcher Zwangsadoptionen es in der DDR gab, ist bis heute unklar.
Von Monika Sax
"Asoziales Verhalten"
Am frühen Morgen des 7. Februar 1972 in Gera, Thüringen: Ein Hämmern an der Tür reißt die vierjährige Katrin Behr, ihren Bruder und ihre Mutter aus dem Schlaf. Männer in dunklen Mänteln drängen die Familie aus der Wohnung zum nahen Marktplatz.
Dort warten zwei Dienstwagen, um die Mutter mitzunehmen. Die kleine Katrin hängt sich verzweifelt an das Bein ihrer Mutter, will sie nicht gehen lassen. Die Mutter verspricht noch: "Wir sehen uns heute Abend wieder." Dann fährt das Auto los.
Katrin Behrs Mutter ist alleinerziehend, hat keinen richtigen Beruf erlernt, ihre zwei Kinder sind von verschiedenen Vätern. Um Rücksicht auf ihre Kinder zu nehmen, weigert sie sich, Arbeiten im Schichtbetrieb anzunehmen. Damit lebt Katrins Mutter ein Leben, das der sozialistischen Norm und dem Ideal der DDR widerspricht – und steht unter besonderer Beobachtung der Behörden.
Zwischen 1960 und 1989 wurden etwa 130.000 von insgesamt 280.000 politisch Verurteilten nach dem so genannten "Asozialenparagraphen" – Paragraf 249 im Strafgesetzbuch der DDR – schuldig gesprochen.
Die Kinder der Inhaftierten wurden oft zu Verwandten gegeben, in Heimen untergebracht oder zur Adoption freigegeben. Alle Adoptionen in der DDR waren sogenannte Inkognito-Adoptionen. Kontakte zwischen Adoptiveltern und leiblichen Eltern waren weder vorgesehen noch erwünscht. Die Kinder sollten "neu anfangen" – und neu erzogen werden.
Wichtiges Ziel in der DDR – die sozialistische Erziehung der Jugend
Alleine im Heim
Katrin und ihr Bruder kommen ins Heim. Der Oma wird jeglicher Kontakt mit Katrin verboten, um ihre Erziehung "zur sozialistischen Einstellung zum Leben und zur Arbeit" nicht zu gefährden. Dies ist das oberste Ziel der Kindererziehung in der DDR, festgehalten in Paragraf 42 des Familiengesetzbuches.
Nach kurzer Zeit meldet ein Hausmeisterehepaar Interesse an, Katrin bei sich aufzunehmen. Der Versuch endet nach einer Nacht. Katrin möchte zurück zu ihrem Bruder. Als sie wieder ins Heim kommt, ist er allerdings verschwunden – versetzt in ein anderes Heim. Damit sind auch die letzten Verbindungen zu Katrins Vergangenheit gekappt.
Katrin Behr kurz vor der Einschulung
Staatskonforme Erziehung
Nach einem weiteren misslungenen Adoptionsversuch bekommt die sechsjährige Katrin noch eine letzte Chance, in einer Familie und nicht im Heim aufzuwachsen. Katrins neue Mutter ist Lehrerin und Parteisekretärin der SED. Und damit prädestiniert, die "wilde" Katrin zu zähmen und sie im Sinne des Ministeriums für Volksbildung staatskonform zu erziehen. Leiterin des Ministeriums ist Margot Honecker, die Frau des DDR-Staatschefs Erich Honecker.
1975 berichtete das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" das erste Mal über einen Fall von Zwangsadoption in der DDR. Es handelte sich um die Familie Grübel, die versucht hatte, im August 1973 mit ihren beiden damals drei und vier Jahre alten Kindern in die Bundesrepublik zu flüchten.
Die Grübels wurden gefasst und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Während die Eltern 1975 von der Bundesrepublik freigekauft wurden, blieben die Kinder in der DDR. Sie wurden von einem DDR-Ehepaar aufgenommen und Ende 1975 adoptiert. Die Grübels sahen ihre Kinder erst 17 Jahre später wieder.
Margot Honecker: "Eltern lassen Kinder im Stich"
Der Artikel des "Spiegel" führte zu einem Eklat zwischen den beiden deutschen Staaten. Der damalige bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU) sagte den Antrittsbesuch des neuen Bonner DDR-Vertreters Michael Kohl gleich wieder ab. Die Staatsführung der DDR wies den Bericht weit von sich.
Um das gerade im Aufbau befindliche deutsch-deutsche Verhältnis nicht zu belasten, versuchten beide Seiten, die unangenehme Geschichte unter den Teppich zu kehren. Erfolgreich – bis 1991.
Zwangsadoptionen sollten das deutsch-deutsche Verhältnis nicht belasten
Im Frühjahr 1991 fand Markus Zimmermann, CDU-Bezirksstadtrat für Jugend und Familie in Berlin-Mitte, in Zeitungspapier eingewickelte Akten mit brisantem Inhalt. Aus diesen Akten ging hervor, dass die DDR Mitte der 1970er-Jahre Kinder zur Zwangsadoption freigegeben hatte, deren Eltern als "politisch unzuverlässig" eingestuft worden waren. Auch vielen Eltern, die Ausreiseanträge gestellt hatten oder versucht hatten, aus der DDR zu fliehen, wurden die Kinder entzogen.
Nach der Wiedervereinigung gab es einige Strafanträge gegen Margot Honecker. Direkte Anweisungen von ihr an die Jugendhilfen ließen sich jedoch nicht nachweisen.
Margot Honecker sagte dazu in einem Fernsehinterview im Herbst 2011: "Es gab keine Zwangsadoption. Mich haben diese Fälle eher immer gerührt, wenn Leute auf diese verantwortungslose Weise ihre Kinder im Stich gelassen haben. Dass die Kinder dann ins Heim aufgenommen werden mussten und ohne Eltern waren und nicht wussten, warum. Den Kindern ist es meistens gut gegangen nachher."
Margot Honecker leitete das Ministerium für Volksbildung
Schwierige Aufarbeitung
Rechtlich sind Zwangsadoptionen mit "normalen" Adoptionen gleichgestellt, da im Einigungsvertrag versäumt wurde, Zwangsadoptionen als schwere Menschenrechtsverletzungen zu kennzeichnen. Die Täter haben offiziell keine Gesetze gebrochen. Daher unterliegen alle Adoptionsakten bundesdeutschem Archivrecht und sind damit für 60 Jahre geschlossen. Adoptierte Kinder und ihre Adoptiveltern haben die Möglichkeit, Kontakt mit den leiblichen Eltern aufzunehmen. Umgekehrt gilt dies nicht.
Das Akteneinsichtsrecht wird jedoch eingeschränkt, wenn persönliche Belange der beteiligten Personen entgegenstehen. Das kann der Fall sein, wenn Informationen über die leiblichen oder Adoptiveltern in der Akte stehen, die nichts mit der Adoption zu tun haben, aber für die Aufarbeitung der Lebensgeschichte wichtig wären – wie bei Katrin Behr die Geschichte ihres Bruders. Dies einzuschätzen liegt im Ermessen des zuständigen Sachbearbeiters.
Da auch viele Jahre später noch ehemalige Mitarbeiter der DDR-Jugendhilfe in den verantwortlichen Positionen der Adoptionsvermittlung saßen und teilweise mit Informationen geizten, war und ist es für einige Betroffene schwierig, ihre gesamte Lebensgeschichte zu rekonstruieren und zu verstehen.
Betroffene wie Katrin Behr kritisieren, dass viele Adoptierte mit dem Verweis auf Datenschutz und Persönlichkeitsrechte von Dritten keinerlei Kopien aus ihrer Adoptionsvermittlungsakte erhalten, obwohl diese leicht, wie zum Beispiel bei Stasi-Akten, durch Schwärzungen geschützt werden könnten.
Adoptierte haben Einblicksrecht in die Akten
Zweifel machen sich breit
Katrin Behr jedenfalls geht es viele Jahre lang in ihrer Adoptivfamilie zumindest äußerlich gut. Halt sucht und findet sie bei ihrem Adoptivvater und der neuen Oma. Ihre Adoptivmutter bleibt zurückhaltend und gibt ihr nie das Gefühl, wirklich ihre Tochter zu sein.
Als Katrin zehn ist, bekommen ihre Adoptiveltern noch einen eigenen Sohn. Sie arrangiert sich mit ihrer neuen Rolle als große Schwester. Doch der Wettbewerb um die Gunst der Stiefmutter bleibt.
Mit zwölf Jahren stellt sie zum ersten – und einzigen – Mal die Frage, die ihr jeden Tag durch den Kopf geht: Was ist mit meiner richtigen Mama? Sie erhält als kurze, ruppige Antwort, dass ihre Mutter zu viel gefeiert und verschiedene Männer gekannt habe. Daher seien die beiden Kinder ins Heim gekommen.
Ihre Adoptivmutter gibt ihr zu verstehen, dass dies ein Tabuthema sei. Katrin fällt in eine tiefe Identitätskrise. Sie fühlt sich gefangen in ihrer Adoptivfamilie, denkt sogar an Selbstmord.
Auch wenn Katrin versucht, an dem positiven Bild ihrer leiblichen Mutter festzuhalten – die Zweifel sind gesät. Vielleicht war ihre Mutter ja wirklich unzuverlässig und hat sie im Stich gelassen? Warum hat sie ihr Versprechen, am Abend wiederzukommen, nicht gehalten? Vielleicht war sie selbst ja schuld daran, dass ihre Mutter nicht mehr zurückwollte?
Wiedergefunden
Da sich Katrin Behr nie wirklich zugehörig fühlt, verlässt sie ihr Adoptivelternhaus so schnell wie möglich. Sie heiratet mit 19 und hat mit 24 Jahren zwei Kinder. Nach der Wiedervereinigung findet sie die Adresse ihrer leiblichen Mutter heraus und trifft sie wieder – nach fast 20 Jahren Trennung. Schnell empfindet Katrin eine innere Verbundenheit, die sie bei ihrer Adoptivmutter immer vergeblich gesucht hat.
Und trotzdem lassen sich die vergangenen 20 Jahre nicht ungeschehen machen. Zweifel an ihrer Mutter und ob sie wirklich alles dafür getan hat, zu ihren Kindern zurückzukommen, nagen an ihr. Dass sie die Adoptionsakte hätte einsehen können, um mehr über die Geschichte ihrer Mutter zu erfahren, weiß sie mit 24 noch nicht.
Erst mit Anfang 40 fordert Katrin Behr Einsicht in ihre Adoptionsakte. Und findet heraus, dass ihre Mutter der Adoption nie zugestimmt hat, dass sie sich weigerte, die Unterlagen zu unterschreiben und damit sogar verschärfte Einzelhaft in Kauf nahm. Nachdem sie all das gelesen hat, kann Katrin Behr ihre Mutter als Opfer anerkennen und ihr vergeben, sie alleine gelassen zu haben.
2008 gründet Katrin Behr den Verein OvZ-DDR e.V. (Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen e.V.) in Gera. Weit über 1000 Suchanfragen hat Behr bereits registriert. Auch hauptberuflich beschäftigt sie sich mit dem Thema: Behr ist Fachberaterin für DDR-Zwangsadoptionen in Deutschland bei der UOKG (Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft e.V.), gefördert vom Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in Berlin.
Bis heute kämpft sie dafür, dass Zwangsadoptierte ein Recht auf Entschädigung erhalten, obwohl sie im Einigungsvertrag nicht als Opfer der DDR-Diktatur anerkannt wurden.
(Erstveröffentlichung: 2014. Letzte Aktualisierung: 28.06.2021)
Quelle: WDR