Beruf Arzt
Einsatz für "Ärzte ohne Grenzen"
Chaotische Arbeitszeiten, lebensgefährliche Zustände, monatelanges Leben unter primitiven Bedingungen: Trotzdem helfen Tausende "Ärzte ohne Grenzen" in den Krisengebieten der Welt. Was bewegt sie, ihr Leben für andere aufs Spiel zu setzen?
Von Monika Sax
Idealismus und Abenteuerlust
"Ich bin kein besonders tapferer Mensch, und die Vorstellung von Entbehrungen und Gefahr – selbst wenn sie begrenzt ist – macht mir Angst. Zugleich reizt sie mich auch, denn wie, ohne mich in eine solche Situation zu begeben, würde ich je herausfinden, wie ich auf sie reagiere. Wachsen kann man nur, indem man etwas Anderes macht", schreibt der Arzt und Psychotherapeut Markus Fritz in einem Blogbeitrag für "Ärzte ohne Grenzen".
Fritz arbeitete bis Ende 2007 in einem Projekt am Mount Elgon im Westen Kenias und kümmerte sich dort um im Krieg traumatisierte Menschen.
1971 gründeten französische Ärzte und Journalisten die heute größte Organisation für medizinische Nothilfe: "Médecins Sans Frontières" (MSF). Ihr Ziel war es, Menschen in Not schnell und unabhängig von Ländergrenzen medizinisch zu helfen und dabei gleichzeitig auf ihre Lage hinzuweisen.
Heute gibt es MSF-Sektionen in 23 Ländern und Regionen, die deutsche heißt "Ärzte ohne Grenzen".
Waren bei dem ersten Projekt gerade einmal drei Ärzte im Einsatz, halfen 2019 fast 65.000 Mitarbeiter in rund 70 Ländern weltweit. Und das sind bei Weitem nicht nur Ärzte. Ohne Krankenpfleger, Hebammen, Apotheker, Logistiker, Techniker und Finanzfachkräfte würden viele Projekte nicht funktionieren.
Wer kann teilnehmen?
Ist man in einem dieser Berufe tätig, kann man sich bewerben und kommt nach überstandenem Auswahlprozess in einen Kandidatenpool. "Ärzte ohne Grenzen" sucht dann ein Projekt, das zum Bewerber passt, es gibt ein Vorbereitungsseminar und danach geht es los. Die Organisation übernimmt dabei die Reisekosten, Unterkunft und Verpflegung vor Ort.
Außerdem erhalten die Mitarbeiter sozialversicherungspflichtige Arbeitsverträge, zahlen also weiter unter anderem in die Renten- und Krankenversicherung ein. Und es gibt eine Aufwandsentschädigung von rund 1000 Euro pro Monat.
Da sich die meisten Mitarbeiter für eine Zeit von mindestens neun Monaten verpflichten müssen, kündigen viele ihren Job. Manche können sich auch freistellen lassen.
"Ärzte ohne Grenzen" hilft in Krisengebieten
Finanziell unabhängig durch Spenden
"Ärzte ohne Grenzen" finanziert sich zu etwa 90 Prozent aus privaten Spenden. Dazu kommen Fördermittel vom Auswärtigen Amt und Einnahmen aus Zinsen, Firmen-Kooperationen und Kostenerstattungen.
2019 nahm die deutsche Sektion auf diese Weise mehr als 170 Millionen Euro ein. Fast 90 Prozent davon wurden direkt für die Proijekte ausgegeben.
Bezahlt werden müssen davon auch die Betreuung der Spender und die Verwaltung der Spendendaten, Mailingaktionen, Standwerbung auf der Straße, Anzeigen sowie Anteile des Spendermagazins Akut. "Ärzte ohne Grenzen" besitzt das Siegel des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen – ein Zeichen für den verantwortungsvollen Umgang mit Spenden.
Improvisation ist alles
MSF hilft vor allem bei Naturkatastrophen, bei der Bekämpfung von Epidemien wie dem Corona-Virus, in Konfliktgebieten wie dem Sudan und bei der Behandlung von vernachlässigten Krankheiten wie der Tuberkulose in Swasiland.
Vor Ort arbeiten meist einheimische Ärzte und Helfer mit internationaler Unterstützung. In kleinen Projekten müssen die Ärzte dabei oft viele Aufgaben parallel übernehmen.
Wie der Arzt Christoph Höhn, der in einem Projekt zur Bekämpfung von Tuberkulose in Tadschikistan arbeitet und jede Stunde dreifach verplanen könnte.
"Visiten in zwei Krankenhäusern, Hausbesuche bei ambulanten Patienten, Treffen mit behandelnden Ärzten, Team-Meetings und noch so einiges mehr", schreibt er in seinem Blog für MSF. Gleichzeitig versucht er, einheimische Ärzte fortzubilden, damit sie nach seinen zehn Monaten im Projekt alles übernehmen können.
Die Zusammenarbeit von internationalen Mitarbeitern und Mitarbeitern aus dem Einsatzland ist die Grundlage der Projekte von "Ärzte ohne Grenzen". Beide Seiten profitieren.
Das findet auch die Pflegefachfrau Irene Mazza, die in der Demokratischen Republik Kongo gearbeitet hat: "MSF bringt Hygiene, Logistik und medizinisches Wissen in die Projekte. Die Einheimischen zeigen uns, wie man aus wenig viel macht. Wenn es keine Abschnürbinde gibt, nimmt man halt ein Infusionsbesteck, um die Vene abzuschnüren."
Außerdem stellen die Leute vor Ort Kontakt zur Bevölkerung her, helfen Vertrauen aufzubauen und Kulturprobleme zu überwinden.
2013: Zerstörung nach dem Taifun auf den Philippinen
Logistik kann Leben retten
Mit kaum mehr als einem Koffer voller Medikamente zogen Ärzte und Krankenschwestern in den ersten Jahren nach der Gründung von MSF in die Krisengebiete.
Heute ist "Ärzte ohne Grenzen" eine sehr effektiv arbeitende Hilfsorganisation, die schnell reagieren kann. In den Logistik-Zentren der Organisation wie etwa in Brüssel gibt es über 500 verschiedene Notfall-Kits. Sie enthalten unter anderem Antibiotika, Schmerzmittel, Fieberthermometer und Verbandsmaterial.
Mit einem Kit können 1.000 Menschen in einem Krisengebiet drei Monate lang mit den wichtigsten Medikamenten versorgt werden. Kosten: 695 Euro.
Je nach Notsituation können diese sofort verschickt werden, denn sie sind fertig gepackt und bereits vom Zoll freigegeben. So kommen sie in kürzester Zeit dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Dank der professionellen Logistik können Helfer teilweise Unglaubliches leisten: So impften Mitarbeiter von MSF im Tschad in zwei Wochen fast 40.000 Menschen gegen Meningitis.
Im Notfall ist überlebenswichtiges Material schnell vor Ort
Schwarze Stunden
Nachrichten vom Tod von Mitarbeitern von "Ärzte ohne Grenzen" erschüttern und lassen ratlos und wütend zurück. Wie im Dezember 2011: Damals wurden in Somalia zwei MSF-Mitarbeiter getötet, deren verurteilter Mörder anschließend vorzeitig aus der Haft entlassen wurde.
Daraufhin machte die Organisation in Somalia einen radikalen Schnitt: Nach 22 Jahren medizinischer Nothilfe im Land schloss sie im August 2013 sämtliche Projekte.
"Indem bewaffnete Gruppen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen töten, angreifen oder entführen, haben sie und die zivilen Autoritäten, die deren Vorgehen tolerieren, das Schicksal unzähliger Menschen in Somalia besiegelt", sagte damals Dr. Unni Karunakara, der internationale Präsident von MSF.
Auch aus Afghanistan zog sich MSF 2004 zurück, weil die Organisation für die Sicherheit der Mitarbeiter nicht mehr garantieren konnte. Was die Situation erschwerte, war der Versuch von politischer Seite, die Hilfsorganisation für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.
So wurden in Afghanistan Flugblätter von der US-geführten Militärkoalition verteilt. In denen forderten sie die afghanische Bevölkerung auf, Informationen über die Taliban und die Terroristen von Al-Qaida weiterzugeben. Sonst würden sie keine humanitäre Hilfe mehr erhalten.
"Humanitäre Hilfe wird immer wieder von der Politik instrumentalisiert – das gefährdet unsere Mitarbeiter und schadet den Hilfsbedürftigen in Konfliktgebieten. Wenn wir als verlängerter Arm einer Interventionsmacht gesehen werden, steigt das Risiko für unsere Mitarbeiter und Patienten", sagt Frank Dörner, der Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen".
Heute ist MSF dennoch wieder in Afghanistan tätig. Jedoch nur so lange, wie sie die Sicherheit der Mitarbeiter so gut wie möglich gewährleistet kann. Politische und finanzielle Unabhängigkeit und Überparteilichkeit sind daher überlebenswichtig für "Ärzte ohne Grenzen".
Aus Somalia zog sich "Ärzte ohne Grenzen" zurück
Erfahrung fürs Leben
Was die Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" motiviert, ist nicht das Geld. Es sind die Erfahrungen, positive wie negative, die den Einsatz für andere Menschen unvergesslich machen.
So beschreibt die Ärztin Kanya Gewalt ihre Zeit im Tschad: "Für mich waren die zehn Monate eine lange Zeit, die ich zuweilen am liebsten vorgespult hätte. Gerne wäre ich zwischendurch in einen Supermarkt gegangen und hätte Schokolade gekauft. Aber wenn ich an die Kinder auf der Straße denke, die mir lachend zuwinken oder mich an die motivierten Gesichter der nationalen Mitarbeiter bei der Visite erinnere, würde ich auch die leckerste Schokolade dafür eintauschen, um einen kleinen oder großen Unterschied im Leben vieler Menschen mit all ihren Einzelschicksalen gemacht zu haben."
Was bei allen Rückkehrern bleibt, ist der Einblick in eine Welt, die wir uns hier oft nicht vorstellen können. Viele prägt die Erfahrung fürs Leben. Einige arbeiten immer wieder für "Ärzte ohne Grenzen" oder andere Hilfsorganisationen. Und es bleibt der Stolz, ein Teil der inzwischen großen globalen MSF-Familie zu sein.
Für den Idealismus, den die Mitarbeiter von MSF bis heute leben, hat die Hilfsorganisation 1999 die größte mögliche Auszeichnung erhalten: den Friedensnobelpreis. Denn MSF helfe nicht nur den einzelnen Menschen, sondern trage auch dazu bei, Frieden zu schaffen.
"In kritischen, von Gewalt und Brutalität geprägten Situationen bereitet die humanitäre Arbeit von 'Médecins Sans Frontières' oftmals den Boden für Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien. Jeder mutige und selbstaufopfernde freiwillige Helfer ist für die Betroffenen ein Mensch, der unparteiisch ist und mit Respekt ihre persönliche Würde anerkennt und widerspiegelt. All dies ist für die Not leidenden Menschen eine Quelle der Hoffnung auf Frieden und Versöhnung", heißt es in der Begründung der Jury.
1999 bekamen die grenzenlosen Ärzte den Friedensnobelpreis
(Erstveröffentlichung 2011. Letzte Aktualisierung 27.07.2020)
Quelle: WDR