Die moderne Medizin kann viel mehr ersetzen als nur Arme und Beine. Noch müssen die Träger ihre Prothesen mit Muskelkraft bewegen. Aber in Zukunft könnte es möglich sein, dass sich die Ersatzteile allein mit Gedanken steuern lassen.
Die ersten Prothesen
Schon seit Jahrtausenden versucht der Mensch, abgetrennte Körperteile zu ersetzen. Die älteste Prothese, die bisher gefunden wurde, ist stolze 3500 Jahre alt.
Archäologen entdeckten sie an der Mumie einer etwa 50 Jahre alten Frau. Es ist sogar bewiesen, dass die Ägypterin mit ihrer hölzernen Zehprothese tatsächlich gut unterwegs war. Denn Abnutzungsspuren verraten, dass das Ersatzteil nicht nur eine Grabbeigabe für das Leben nach dem Tod war.
Genauso lassen sich Prothesen für andere Körperteile bis weit in die Vergangenheit nachweisen. In vielen Kulturen war es auch lange vor Beginn unserer Zeitrechnung nichts Ungewöhnliches, kaputte oder verlorene Zähne zu ersetzen.
Schon die alten Römer nutzten Hunderte Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung Zahnprothesen. Diese bestanden damals aus tierischen oder menschlichen Zähnen und wurden mit Drähten an den gesunden Nachbarzähnen fixiert.
Vom Holzstumpf…
Besonders eindrucksvoll jedoch spiegelt sich die Entwicklung der künstlichen Körperteile in der Geschichte der Beinprothesen wider: Im Mittelalter war noch eine einfache Holzstelze üblich. Die Patienten knieten praktisch in dieser Stelze, der Stumpf wurde nach hinten weggebunden.
Für Wohlhabende gab es im 16. Jahrhundert neben den Stelzen auch schon erste Prothesenkonstruktionen. Sie hatten einen gefederten Prothesenfuß und ein bewegliches Kniegelenk. Zum Sitzen wurde es abgewinkelt, beim Gehen musste es festgestellt werden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts aber war die einfache Holzstelze ein üblicher Beinersatz.
Die moderne Medizin steckte zu dieser Zeit allerdings noch in den Kinderschuhen. Heute unvorstellbar: Amputationen wurden ohne Betäubung vorgenommen, die medizinische Narkose gibt es erst seit 1846.
Bis dahin überlebten viele Patienten die Operation erst gar nicht. Sie starben vor Schmerzen, erlagen dem hohen Blutverlust während der Operation oder fielen etwas später einer Wundinfektion zum Opfer. Mit den Fortschritten in der Medizin überlebten immer mehr Patienten und brauchten im Anschluss eine Prothese.
…zum Hightech-Produkt
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es reichlich Amputationen, denn es war geprägt von etlichen großen Kriegen, zum Beispiel dem Amerikanischen Bürgerkrieg und dem Deutsch-Französischen Krieg.
War der Prothesenbau bisher vor allem eine Sache der Handwerker, so stellten sich jetzt auch Mediziner, Ingenieure und Naturwissenschaftler der Herausforderung. Bald schon wurden die Ersatzbeine komfortabler und boten ihren Trägern eine größere Bewegungsfreiheit.
Nach dem Ersten Weltkrieg stand auch die Prothetik wieder vor einer riesigen Herausforderung. Nie zuvor war es notwendig, so viele Amputierte zu versorgen. Nicht nur, um ihnen ein selbständiges Leben zu ermöglichen, sondern auch, weil sie nach dem Krieg als Arbeitskräfte gebraucht wurden. In den 1920er Jahren begannen die Experten, Prothesen nach wissenschaftlichen Kriterien zu bauen.
Damals wurde eine Entwicklung angestoßen, die heute in computergesteuerten Hightech-Anfertigungen gipfelt. Moderne Beinprothesen sind so konstruiert, dass man ihren Trägern beim Gehen das Handicap gar nicht mehr ansieht. Inzwischen ist es sogar möglich, mit einer Beinprothese auf dem Fahrrad oder mit Inlineskates zu fahren.
Besondere Spezialanfertigungen für Spitzensportler haben in den vergangenen Jahren zu einer wahren Leistungsexplosion im sogenannten Behindertensport geführt. In einigen Disziplinen reichen die Ergebnisse inzwischen schon an die Resultate der nicht-amputierten Sportler heran.
Moderne Prothesen sind Hightech-Konstruktionen
Die Komplexität der Hand
So ausgefeilt wie Beinprothesen sind Prothesen für die Hand noch lange nicht. Bisher ist es nicht gelungen, eine befriedigende Ersatzhand zu konstruieren. Kein Wunder, denn kein anderes Teil des menschlichen Körpers vollbringt so komplexe und virtuose Bewegungsabläufe wie eine gesunde Hand.
Seit vielen Jahrhunderten gibt es Versuche, die menschliche Hand adäquat zu ersetzen. Zunächst mit einfachen Haken, später mit ersten Greifwerkzeugen. Legendär ist bis heute die Handprothese von Götz von Berlichingen.
Als junger Mann verlor er 1504 in einem Gefecht seine rechte Hand. Ein wahres Meisterwerk aus Metall diente ihm danach als Ersatz. Wie es sich für einen Ritter der damaligen Zeit gehörte, zog Götz von Berlichingen auch mit Prothese weiter von einer Auseinandersetzung zur nächsten.
Die heutigen Handprothesen lassen sich von ihrem Träger aktiv steuern. Kleine Sensoren auf den Muskeln im Amputationsstumpf spüren winzige elektrische Spannungen auf. Diese werden verstärkt und an Elektromotoren in der Prothese weitergegeben. So können die Patienten dann ihre Hand wenigstens öffnen und schließen. Mehr allerdings noch nicht. So sind Menschen mit einer Handprothese auch heute noch sehr eingeschränkt.
Eine deutliche Verbesserung bringt die sogenannte Fluidhand, die an der Uni Karlsruhe entwickelt wurde. Dank einer hydraulischen Steuerung kann bei dieser Prothese jeder Finger einzeln bewegt werden. So sind mit der Fluidhand immerhin schon fünf verschiedene Griffe möglich. Nach wie vor die größte Herausforderung für die Prothesenentwickler ist der Ersatz einzelner Finger.
Weit mehr möglich als nur Arme und Beine
Heute werden nicht nur fehlende Gliedmaßen ersetzt. Häufig verschleißen Teile des menschlichen Körpers – meistens sind Gelenke davon betroffen. Doch erst seit Mitte der 1960er Jahre kann für Linderung gesorgt werden.
Inzwischen gehören manche Eingriffe zum medizinischen Alltagsgeschäft – allein in Deutschland werden jedes Jahr mehrere Hundertausend Hüftprothesen und künstliche Kniegelenke eingesetzt.
Die Palette der Ersatzteile, die die moderne Medizin heute zu bieten hat, ist beeindruckend. Sie reicht von Luft- und Speiseröhren über Blutgefäße und Knochenimplantate bis hin zum Innenohr und der Netzhaut des Auges. Seit 1982 können die Mediziner sogar das Herz ersetzen. Zwar nur für Monate, aber immerhin wurde so schon mehr als 1000 Menschen geholfen.
Darüber hinaus können nach Unfällen oder Tumorerkrankungen große Teile des Schädelknochens nachgebaut werden. Auch kosmetischer Ersatz für Nase, Augen, Ohren, Wangen und Lippen gehören zum Repertoire der Ärzte.
Kosmetische Prothesen helfen nach schweren Unfällen
Mit der Macht der Gedanken
Das Fernziel vieler Forschungsarbeiten ist eine immer engere Verschmelzung von Mensch und Prothese. Es werden große Anstrengungen unternommen, um zum Beispiel Arm- und Handprothesen nicht mehr nur über das Zucken der Muskeln im Amputationsstumpf zu steuern.
Vielmehr ist das Ziel, eine direkte Verknüpfung mit dem Nervensystem des Trägers herzustellen. Mit empfindlichen Sensoren sollen kleine Impulse in den Nervenenden des Stumpfes abgegriffen und so die Prothese kontrolliert werden.
Die Visionen der Wissenschaftler gehen jedoch noch deutlich weiter. Denn bei Querschnittsgelähmten kommen keine Nervenimpulse mehr in den Gliedmaßen an. Ihnen würde es nur helfen, wenn sie eine Prothese direkt mit ihren Gedanken dirigieren könnten.
Noch eine Vision: Prothesensteuerung allein mit Gedanken
Klingt nach Science-Fiction, aber fast 100 Forschergruppen auf der ganzen Welt haben genau dieses Ziel. Sie wollen dabei ein besonderes Phänomen ausnutzen. Denn egal, ob wir eine Bewegung ausführen oder uns genau diese Bewegung nur vorstellen – die Nervenzellen im Gehirn arbeiten nach dem völlig gleichen Muster.
Deshalb wollen die meisten der Forschungsgruppen mit Hauben auf dem Kopf die Aktivität der Hirnzellen erfassen. Diese Informationen müssen dann im nächsten Schritt in eine Bewegung der Prothese übersetzt werden.
Einige Projekte wagen sich noch ein Stück weiter. So gab es bereits ein Experiment, bei dem einem Menschen ein winziger Chip ins Gehirn eingepflanzt wurde. So konnte man die Informationen der Nervenzellen direkt aus dem Gehirn "abzapfen".
(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 24.01.2020)
Quelle: WDR