Die essbaren Früchte der Edelkastanie
Die Edelkastanie ist nicht zu verwechseln mit der in nördlichen Gegenden verbreiteten Rosskastanie. Die beiden Baumarten entstammen nicht der gleichen Familie. Während die Früchte der Edelkastanie (castanea sativa) essbar sind, und ihr gelegentlich sogar heilende Kräfte zugesprochen werden, ist das bei der Rosskastanie nicht der Fall. Hier kann der Verzehr beim Menschen sogar zu Vergiftungserscheinungen führen.
Ursprünglich stammt die Edelkastanie aus Südosteuropa und Kleinasien, wo sie von den Armeniern kultiviert wurde. Sie wurde später zusammen mit dem Wein von den Römern in das heutige Tessin gebracht. Jahrhundertelang prägten ausgedehnte Kastanienwälder das Landschaftsbild. Heute ist die Edelkastanie wieder nahezu im gesamten Mittelmeerraum anzutreffen.
Kastanienwald nahe Giornico
Baumkrankheiten, vor allem der Kastanien-Rindenkrebs, haben der Edelkastanie im Tessin sehr zugesetzt. Zeitweilig drohte sogar eine komplette Vernichtung des Baumbestandes. Dies konnte durch eine Initiative der Tessiner Kantonsverwaltung allerdings noch rechtzeitig verhindert werden.
In der Schweiz finden sich gut 98 Prozent des Kastanienbestandes im Kanton Tessin sowie in den Südtälern des Kantons Graubünden. In diesen Regionen ist inzwischen wieder jeder fünfte Baum eine Kastanie.
700 Jahre alte Kastanien
Im Auftrag der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) wurde 2004 eine Inventarisierung des Tessiner Altkastanienbestandes durchgeführt. Insgesamt wurden 300 alte Kastanien mit einem Mindestumfang von sieben Metern in Brusthöhe erfasst und beschrieben. Das Alter dieser Bäume wurde auf 300 bis 700 Jahre geschätzt.
Die Edelkastanie zählt zu den Großbäumen, die eine Höhe von zehn bis 35 Metern und einen Kronendurchmesser von zehn bis 15 Metern erreichen können und häufig einen drehwüchsigen Stamm haben. Der bevorzugte Standort ist ein eher nährstoffarmer Boden in einem milden bis warmen Klima, wobei früher und später Frost dem Baumbestand besonders schadet.
"Brotbaum" der Bergbauern
Die Inventarisierung der Edelkastanie durch die Eidgenössische Forschungsanstalt ergab, dass vor allem im Umkreis kleiner Gehöfte regelrechte Kastanienplantagen zu finden sind. Die Bäume wurden hier früher besonders gehegt und gepflegt, denn bis weit ins 19. Jahrhundert war die Kastanie für die Bevölkerung von großem Nutzen.
Die Blätter dienten bei der Viehhaltung als Streu in den Ställen und als Futter. Das Holz wurde beim Hausbau, aber auch beim Möbel-, Schiffs- und Instrumentenbau sowie dem Wasserbau und dem Bau von Lawinenschutz-Vorrichtungen genutzt. Darüber hinaus wurde der begehrte Rohstoff auch exportiert und gelangte auf dem Wasserweg über den Lago Maggiore in die Lombardei und ins Piemont.
Der Hauptnutzen der Kastanie lag jedoch in ihrer Verwendung als Nahrungsmittel. Im Herbst wurden noch bis weit ins 19. Jahrhundert die Früchte in großen Mengen gesammelt, denn die Kastanie diente in den Wintermonaten als Nahrungsgrundlage. Die Früchte ließen sich gut lagern und in den Wintermonaten verarbeiten.
Das kohlenhydrathaltige und vitaminreiche Mehl wurde zum Brotbacken verwendet oder mit Milch und Polenta zu einem Brei gemischt. Das hat der Kastanie den Ruf "Brotbaum der Armen" eingebracht.
Der Bedarf war für damalige Verhältnisse schon beachtlich. Als Faustregel galt: "Ein Baum pro Kopf." Das ergab einen Jahresbedarf von schätzungsweise 150 bis 200 Kilogramm pro Person. Diese Ernte einzusammeln, muss früher eine höchst beschwerliche und wegen der stacheligen Früchte auch sehr schmerzhafte Angelegenheit gewesen sein.
Wiederentdeckung der kulinarischen Köstlichkeit
Als sich Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bau der Gotthardbahn die Verkehrsanbindung des Tessins verbesserte, als Kartoffeln und Weizenmehl aus dem Norden sowie Reis und Polenta aus der italienischen Lombardei und dem Piemont ins Tessin gelangten, verschwanden allmählich auch die Maronen von den Tischen der Tessiner Bevölkerung.
Kulinarisch ist die Kastanie vielseitig, hier als Beilage zu Rinderbraten
Mit dem Rückgang des Kastanienbestandes wurden zeitweilig Maronen aus Frankreich importiert. Inzwischen wird jedoch der Bedarf wieder aus der heimischen Ernte gedeckt. Mittlerweile wurden die Maronen auch als kulinarische Köstlichkeiten wiederentdeckt und verfeinert. So gibt es heute neben Kastanienbrot auch allerlei Kuchen und Gebäck aus Kastanien, aber auch Nudeln, Honig oder Kastanienflakes.
Der Schweizer Tourismusverband fördert auf seine Weise die Tessiner Kastanie. So wurde ein Sentiero del Castagno angelegt, ein Kastanienwanderweg, der zwischen dem Gipfel des Monte Lema (1620 Meter) und dem Luganersee in den Tälern des Malcantone verläuft.
Quelle: SWR | Stand: 28.05.2020, 14:00 Uhr