Luftaufnahme von Brasilia.

Brasilien

Brasilia – Hauptstadt im Nirgendwo

Brasilia war der Versuch, eine ideale Hauptstadt zu schaffen, die alle Bedürfnisse ihrer Bewohner erfüllt. Entworfen am Reißbrett und gebaut in kaum dreieinhalb Jahren ist Brasiliens Hauptstadt das Meisterwerk einer Epoche und Unesco-Weltkulturerbe. Eine Utopie, die scheitern musste, weil Bedürfnisse sich ändern.

Von Carsten Upadek

Der Traum von einer idealen Hauptstadt

Von einer Hauptstadt im Landesinneren träumten die Brasilianer seit den ersten Bestrebungen nach Unabhängigkeit von der portugiesischen Krone Ende des 18. Jahrhunderts. Und die Regenten Brasiliens hofften, sich mit einer zentralen Hauptstadt bei einer Invasion des riesigen Landes besser verteidigen zu können.

Doch immer wieder wurde das Projekt verschoben, bis der Präsidentschaftskandidat Juscelino Kubitschek den Bau zum Wahlversprechen erhob und damit 1956 Präsident wurde.

Rio de Janeiro soll nach Brasilia verlegt werden (am 19.04.1956)

WDR ZeitZeichen 19.04.2021 14:57 Min. Verfügbar bis 20.04.2099 WDR 5


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Für den Entwurf der Gebäude engagierte er den aufstrebenden brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, den er aus seinen Tagen als Bürgermeister der Regionalhauptstadt Belo Horizonte kannte und dem er vertraute. Die internationale Ausschreibung für die Planung gewann wenig überraschend dessen Lehrmeister, der Stadtplaner Lúcio Costa, ein Pionier der modernen Architektur in Brasilien.

Die Grundidee: ein einfaches Kreuz

Costas Idee für eine Hauptstadt aus dem Nichts war so einfach wie genial: Er malte ein Kreuz auf eine Landkarte und machte es zur Basis seines "Plano Piloto", seines Grundrisses. Bis heute wird die Kernstadt Brasilias so genannt.

An einer Längsachse des Kreuzes reihen sich Staatsgebäude und Monumente auf, an der Querachse Wohngebiete und Geschäftsviertel. Am Schnittpunkt des Kreuzes befindet sich das Herz der Hauptstadt Brasilia: ein Busbahnhof.

Schwarzweiß-Foto: Oscar Niemeyer und Lúcio Costa an einem Tisch.

Die Väter Brasilias: Oscar Niemeyer (links) und Lúcio Costa

Architekt Oscar Niemeyer schuf eine einzigartige Architektur

Der zentrale Busbahnhof ist 700 Meter lang und erinnert an ein mehrstöckiges Autobahnkreuz mit einem Supermarktparkplatz auf der obersten Etage. Doch die Aussicht ist monumental: Hinter dem Besucher türmen sich Wolkenkratzer, in denen sich die Zentralen der bedeutendsten Unternehmen des Landes befinden.

Nach Osten öffnet sich der Blick auf das Ende der Längsachse, eine von einem Grüngürtel – der in der Trockenzeit jedoch eher braun ist – unterbrochene sechsspurige Straße. An ihren Rändern stehen 18 gleichförmige Scheibenhäuser, Brasiliens Bundesministerien. Die Achse endet am "Platz der drei Gewalten", dem Meisterwerk des im Dezember 2012 verstorbenen Star-Architekten Niemeyer.

Gemeint sind der Präsidentenpalast "Palácio do Planalto", der oberste Gerichtshof und der Nationalkongress. Gemeinsam bilden sie die Form eines gleichseitigen Dreiecks. Die Formen der Gebäude waren zu jener Zeit revolutionär neu: "Oscar Niemeyer nutzte Stahlbeton und dessen plastische Verformbarkeit wie niemand vor ihm", erklärt Frederico de Holanda, Professor für Architektur an der Universität Brasilia.

Niemeyer schuf eine "Symphonie der Formen", wie er es selbst nannte. Er formte Säulen in Segelform und schalenförmige Kuppeln. In seinen Memoiren schreibt Niemeyer: "Der rechte Winkel hat mich nie angezogen, nicht die gerade Linie, hart, unflexibel, vom Menschen geschaffen. Mich hat die Kurve fasziniert, frei und sinnlich, die Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im gewundenen Verlauf seiner Flüsse, den Wellen des Meeres, im Körper einer schönen Frau."

Luftaufnahme des Regierungsviertels in Brasilia.

Monumentaler Ausblick: das Regierungsviertel in Brasilia

Von oben sieht Brasilia aus wie ein Flugzeug

Die zweite Achse des Kreuzes, die Querachse, ist gleichzeitig die Hauptverkehrsader. Vom zentralen Busbahnhof aus macht sie nach Süden und nach Norden einen leichten Bogen. Aus der Luft wirkt sie deshalb wie die Flügel eines Flugzeuges und die Längs-Achse wie dessen Cockpit und Rumpf. Die Form ihrer Hauptstadt vergleichen die Brasilianer deshalb schon immer mit der eines Flugzeuges.

"In der Zeit zwischen der Zeichnung des originalen Planes und der Umsetzung hat Planer Lúcio Costa festgestellt, dass die Distanz zwischen dem Nord- und dem Südflügel zu groß würde", sagt Architektur-Professor Holanda. Deshalb krümmte er die Flügel.

In ihnen schuf Costa ein weit verzweigtes Straßensystem. Denn als Fortbewegungsmittel der Moderne sah er das Auto. Fußgänger haben es bis heute nicht leicht, Brasilias vielspurige Straßen zu überqueren. Östlich der Flügel und des Cockpits befindet sich ein künstlicher See von 40 Quadratkilometern Größe.

Die Superblocks – Luxusversion deutscher Plattenbauten

Costas Ziel waren weite Flächen und klare Formen. "Der Himmel ist das Meer Brasilias", sagte er einmal. Er war Anhänger des französischen Modernismus-Vordenkers Le Corbusier, für den eine Stadt vor allem funktional sein musste.

Wie das zu erreichen ist, beschrieb Le Corbusier in seiner "Charta von Athen" von 1933: durch eine Trennung der Lebensbereiche Arbeit, Verkehr, Erholung und Wohnen. Getrennt von den Arbeitssektoren befinden sich in den Flügeln des "Flugzeugs" deshalb ein Großteil der Wohnviertel: die Superblocks, vergleichbar mit einer Luxusversion deutscher Plattenbauviertel.

Ihre Adressen bestehen aus einer logischen, aber sehr komplizierten Kombination aus Zahlen und Nummern. Einheimische lieben die Logik – Fremde verzweifeln regelmäßig. Ein Beispiel: SQS 708 H 44 ist das Gebäude 44 im Block H (H 44) des Superquadrats in der Südzone (SQS) auf der Höhe 700 der Längsachse und 8 des Südflügels (708).

Die Brasilienses, wie sich die Bewohner Brasilias nennen, wohnen gern in den Superblocks, sagt Architektur-Professor Frederico da Holanda: "Es ist sehr ruhig, obwohl wir hier im Zentrum sind. Man kann sogar die Vögel hören. Das liegt daran, dass es nur eine Zugangsstraße gibt und somit keinen Durchgangsverkehr. Neben den Wohngebäuden gibt es nur noch zwei Einrichtungen: einen Kindergarten und eine Grundschule."

Ärmere Leute können sich die Kernstadt nicht leisten

Costa und Niemeyer wollten eine perfekte, moderne Stadt schaffen. Sie glaubten, dass sich die Gesellschaft an den Stadtentwurf anpassen würde. Aber sie hatten bei der Planung nicht an das enorme Wachstum und die sozialen Unterschiede gedacht.

Angelegt war die Hauptstadt für 600.000 Menschen, heute sind es fast 2,8 Millionen Einwohner. "Ideologisch gesehen, sollte Brasilia eine demokratische Stadt sein", so Frederico de Holanda. "Stattdessen hat sie die soziale Segregation befördert."

Eigentlich hätten Arm und Reich nebeneinander leben sollen. Eingeplant waren große Häuser und Wohnungen. "Die Apartments hatten alle Aufzüge und Tiefgaragen. Aber das machte sie teuer, was sich ärmere Leute nicht leisten konnten. Für sie war der einzige Platz außerhalb des Pilot-Plans."

Busfahrer und Sekretärinnen, Handwerker und Hausmädchen gründeten Siedlungen außerhalb der Kernstadt. Im Laufe der Jahrzehnte wucherten 29 Satellitenstädte, manche größer als der Pilot-Plan selbst.

"Die Leute verbringen ihr halbes Leben im Bus"

Im Herzen Brasilias, dem zentralen Busbahnhof, ist der Andrang am späten Nachmittag hoch. Menschenmassen stehen Schlange, um in die Busse zu kommen, die in die Vororte fahren. Manche liegen bis zu 50 Kilometer entfernt.

Die Nummer 0.570 fährt nach Taguatinga. Die Satellitenstadt befindet sich 20 Kilometer außerhalb des Pilot-Plans. Die Fahrt kann aber Stunden dauern, denn die Zufahrten sind völlig verstopft, wie jeden Werktag. "Die Hälfte aller Jobs liegt innerhalb des Pilot-Plans", sagt Architektur-Professor Holanda. "Aber 90 Prozent der Bewohner wohnt außerhalb."

Morgens fahren zehntausende Menschen in das Zentrum, abends wieder zurück. "Die Leute verbringen ihr halbes Leben im Bus." Taguatinga allein hat 220.000 Einwohner, so viele wie Krefeld. "Zunächst lebten hier nur arme Familien. Mit der Entwicklung zog die Stadt aber auch immer mehr Menschen der Mittelschicht an", sagt Frederico de Holanda.

Augusto Ferreira de Souza kam mit 19 Jahren aus der Provinz nach Brasilia, um sein Glück zu finden. Das war 1978. "Emotional war das natürlich belastend. Ich war sehr jung, ganz allein an einem fremden Ort, ohne Verwandte. Ich war ungelernt und hatte nicht die geringste finanzielle Möglichkeit, im Plano Piloto zu wohnen." Aber es habe überall freie Stellen gegeben.

Augusto ging zum Militär, gründete eine Familie und kaufte sich ein Haus in Vincente Pires am Rand von Taguatinga. Heute ist die Gegend zu einer guten Nachbarschaft geworden, die Immobilienpreise sind hoch. Augusto ist inzwischen beim Militär pensioniert und arbeitet als Sicherheitsberater.

"Wenn ich nicht aus meiner Heimat weggegangen wäre, würde ich heute auf dem Feld arbeiten, ohne Perspektive und ohne einen Zahn im Mund." Er verdankt Brasilia viel und fühlt sich inzwischen sehr wohl: "Ich komme viel rum in Brasilien. Im Vergleich zu anderen Städten haben wir hier eine traumhafte Infrastruktur."

Mehr als 30 Morde auf 100.000 Einwohner

Nur die Kriminalität macht Augusto zu schaffen. Laut den Vereinten Nationen ist Brasilia eine der Städte mit der größten sozialen Ungleichheit. Hinter Taguatinga beginnt die nächste Satellitenstadt: Ceilândia. An ihrem Westrand befindet sich eines der größten Armenviertel Südamerikas.

Wie viele Menschen in dem Favela-Komplex leben, weiß niemand. Schätzungen gehen von 80.000 bis 150.000 Menschen aus. Aus den unverputzten Steinhäusern und Holzhütten läuft das Abwasser meist auf die Straße aus rotbrauner Erde. Es gibt keine Kanalisation, keine Müllabfuhr und nur wenige asphaltierte Wege.

Die Kriminalitätsrate ist hoch, die Anzahl der Polizisten gering. Der Westrand von Ceilândia gilt als Brasilias gefährlichste Gegend und als Grund, warum die Hauptstadt mit ihrem Bundesdistrikt in der brasilianischen Kriminalitätsstatistik in jedem Bereich weit oben rangiert.

Ein Bauarbeiter sitzt auf einem Schutthaufen.

Ein Bauarbeiter in einem von Brasilias Armenvierteln

(Erstveröffentlichung 2014. Letzte Aktualisierung 19.07.2019)

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Quelle: WDR

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