Figurentheater
Augsburger Puppenkiste
Jim Knopf, Urmel aus dem Eis und der Räuber Hotzenplotz: Die Marionetten-Figuren der "Augsburger Puppenkiste" wirken hölzern, zappeln unbeholfen mit den Beinen – und sind doch berühmte Stars. Seit mehr als 70 Jahren verzaubern sie Groß und Klein.
Von Claudia Kracht und Tobias Aufmkolk
Es begann in der Nachkriegszeit
Die erste Idee zur "Puppenkiste" entstand an einem ungewöhnlichen Ort. Der gelernte Schauspieler Walter Oehmichen war 1940 als Soldat in Calais stationiert. In der zur Kaserne umfunktionierten Schule fand er eines Tages ein altes Puppentheater.
Um etwas Abwechslung in den trostlosen Kasernenalltag zu bringen, unterhielt er seine Kameraden von da an mit Puppenspiel. Nicht nur die Soldaten fanden Gefallen an den Aufführungen, auch Oehmichen war seitdem vom Puppenspiel infiziert.
Nach Kriegsende verfolgte Oehmichen sofort die Idee von einer eigenen Marionettenbühne – fast ohne Geld, dafür aber mit viel Idealismus. Eines Tages radelte er durch das zerbombte Augsburg und entdeckte einen kaum genutzten Saal des Statistischen Amtes im Heilig-Geist-Spital – ein geeigneter Ort für eine Puppenbühne.
Der damalige Amtsleiter hatte nichts gegen das Marionettenspiel. Also wurden Holz, Schrauben und Dübel organisiert, notdürftig eine Bühne gezimmert und Puppen geschnitzt.
"Der gestiefelte Kater", ein Märchen des französischen Schriftstellers Charles Perrault, bildete die Grundlage für das Premieren-Stück am 26. Februar 1948. Das Lampenfieber war groß. Gespannt warteten die Mitglieder des neu gegründeten Marionettentheaters auf die Reaktionen des Publikums und der Medien. Sie fielen freundlich aus.
Wenige Tage später stand in der "Augsburger Allgemeinen Zeitung": "In der Puppenkiste schlafen viele geheimnisvolle Wesen. Ein Wort, ein Zug, und sie erstehen zu buntem, zauberhaftem Leben und sprechen zu uns, sei's heiter oder ernst, manches Lösende zur Wirrnis unserer Tage. Wir müssen sie nur hören wollen!"
Mobil durch die Lande
Walter Oehmichen dachte zunächst nicht an eine ortsgebundene Bühne. Ihm schwebte ein Reisetheater vor: klein und überall einsetzbar. Bühne, Puppen, Zubehör – all das sollte schnell in Truhen verpackt werden und mit auf die Reise gehen. Daher der Name "Puppenkiste".
Modell eines Spielzelts, wie Oehmichen es sich vorstellte
Das Puppenspiel auf der Bühne wurde schnell beliebt und die gesamte Familie Oehmichen packte mit an. Puppen, Dekorationen und die Beleuchtungstechnik wurden ausschließlich im Familien- und Freundeskreis gefertigt.
Mutter Rosa gestaltete die Kostüme und sprach die Mutter-Rollen, Tochter Hannelore schnitzte und führte die Puppen.
Das kleine Familien-Ensemble trat ab 1951 zunächst im gesamten süddeutschen Raum auf, wenig später auch schon in Düsseldorf, Köln und Südtirol. Im Winter übernachtete die Gruppe in ungeheizten Herbergen und reiste in klapprigen Bussen, die nicht selten angeschoben werden mussten.
Viel verdienten die Künstler anfangs nicht: um die 300 Mark Gesamtgage gab es für eine Aufführung. Fast zwei Jahrzehnte lang fuhr das Augsburger Ensemble so kreuz und quer durch den deutschsprachigen Raum. Erst 1970 wurden die Gastspielreisen eingestellt.
Fernsehruhm für Marionetten
Bundesweit bekannt wurde die Augsburger Puppenkiste 1953. Denn im Herbst 1952 präsentierte sich die Puppenkiste mit vielen anderen städtischen Unternehmen auf einer Augsburger Messe. Die Aufführungen fielen Hanns Fahrenburg sofort auf. Fahrenburg war im Auftrag des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) auf der Suche nach TV-Attraktionen.
Er sprach Theaterleiter Oehmichen kurzerhand an, ob er nicht Lust hätte, ein Marionettenspiel fürs Fernsehen zu inszenieren. Nur wenige Monate später, am 21. Januar 1953, war Sergej Prokofjews musikalisches Märchen "Peter und der Wolf" im Fernsehen zu bestaunen.
Schwerstarbeit hinter und über den Kulissen
Kurz darauf wurde Oehmichen von Fritz Umgelter angerufen, einem alten Freund und Kollegen vom Augsburger Stadttheater. Umgelter war seit Anfang des Jahres 1953 Fernsehregisseur beim Hessischen Rundfunk (HR). Er bat den Augsburger Puppenkünstler, vom NWDR zum HR zu wechseln.
Gesagt, getan. Die Zusammenarbeit mit dem HR hielt bis 1994.
Ab 1959 brauchten die Puppenspieler nicht mehr zum Fernsehen zu reisen. Stattdessen kamen die Techniker und Produzenten des Hessischen Rundfunks für die Aufzeichnungen nach Augsburg – jeweils in der sommerlichen Bühnenpause.
Laut Drehplan lag das Tagespensum bei nur drei bis vier Sendeminuten. Das hieß aber rund zehn bis zwölf Stunden Arbeit täglich. Wegen der heißen TV-Scheinwerfer mussten die Puppenspieler auf ihren Spielbrücken schweißtreibende Temperaturen von mehr als 60 Grad aushalten.
So entstanden legendäre TV-Serien wie "Die Muminfamilie", "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" oder "Urmel aus dem Eis", die ein Millionen-Publikum fesselten. Rund 150 Produktionen mit den ferngelenkten Stars sind seit den Anfängen in den 1950er-Jahren gesendet worden.
Das "Ensemble" der Augsburger Puppenkiste
Das Kreuz mit dem Faden
Walter Oehmichen vererbte die Liebe zum Puppentheater an seine Tochter Hannelore Marschall-Oehmichen. Bis zu ihrem Tod 2003 schnitzte sie in der Augsburger Puppenwerkstatt rund 6000 "Stars an Fäden".
Die kleinen Figuren bestehen ausnahmslos aus Lindenholz, denn es ist besonders weich, fein und dicht. Die Puppen werden aufwendig in Handarbeit geschnitzt. Es gibt nur zwei technische Hilfen: eine Bandsäge und eine Schleifmaschine.
Die kleinen Kunstwerke sind nicht besonders schwer, sie wiegen nur etwa 800 bis 1200 Gramm. Dennoch ist Puppenspiel ein Kraftakt: Fast jeder Marionetten-Spieler leidet über kurz oder lang an Rückenbeschwerden, weil er sich auf der sogenannten "Spiel-Brücke" oberhalb der Bühne weit nach vorne beugen muss.
Auch bei Theateraufführungen ist ein hoher technischer Aufwand erforderlich. Jeder Premiere gehen Arbeiten wie Puppenbau, Proben, Kulissenbau, Herstellung von Requisiten, Malerarbeiten, Aufschnüren der neuen Marionetten, Sprach- und Musikaufnahmen voraus.
Dazu kommt die Vertonung: Bereits vor einer geplanten Live-Aufführung im Augsburger Theater treffen sich geübte Schauspieler zur Tonaufzeichnung. Im Studio sprechen sie die Dialoge der Marionettenfiguren ins Mikrofon.
Hannelore Marschall-Oehmichen mit ihren Söhnen 2001
Techniker schneiden in Feinarbeit das Tonband und entfernen Fehler und Versprecher. Auch alle Geräusche werden per Band zugespielt, ebenso die eigens komponierte Musik.
Erst wenn das Tonband fertig produziert ist, bekommen es schließlich die Puppenspieler zu hören. Sie führen ihre Marionetten genau passend zum Tonband-Dialog und können sich daher ganz auf die Gesten und Bewegungen der Figuren konzentrieren.
Zurück zur Bühne
2004 erhält die Augsburger Puppenkiste die Goldene Kamera für seine Klassiker, doch die Zeit der großen Fernsehproduktionen ist vorbei. Im 21. Jahrhundert konzentriert sich die Puppenkiste wieder hauptsächlich auf die Bühnenarbeit.
Jedes Jahr gibt es neue Inszenierungen im Augsburger Stammsitz, der sich immer noch in den Räumen des Heilig-Geist-Spitals befindet. Das Interesse an Aufführungen des Marionettentheaters ist auch heute noch so groß, dass die Puppenkiste seit einigen Jahren wieder auf Tournee geht.
In Kindergärten spielt die Puppenkiste seit 2006 ein Stück über die Vorbeugung von Sucht- und Gewaltverhalten. Auf Auslandsreisen begeisterten die Puppenspieler auch das Publikum in Japan, Portugal, Singapur, Malaysia und den USA.
2001 erfüllte sich Hannelore Marschall-Oehmichen zwei Jahre vor ihrem Tod einen lang gehegten Traum. Direkt über den Theaterräumen wurde das Puppentheatermuseum "Die Kiste" eröffnet.
In einer Dauerausstellung können Besucher die legendären Marionetten in ihren originalen Bühnenkulissen bewundern. In wechselnden Sonderausstellungen gibt es zudem noch weitere Figuren aus dem reichhaltigen Fundus der Puppenkiste oder Sammlungen von anderen Puppentheatern zu sehen.
(Erstveröffentlichung: 2012. Letzte Aktualisierung: 11.08.2020)
Quelle: WDR