Die Anfänge
Die Sesamstraße war besonders – von Anfang an. Bevor die amerikanische Fernsehproduzentin Joan Ganz Cooney die Idee hatte, eine Sendung speziell für Vorschulkinder zu machen, gab es keine vergleichbare Serie. Bis Mitte der 1960er-Jahre glaubte niemand, dass Kinder mithilfe des Fernsehens lernen können.
Eine weitere Besonderheit: Die neue Kindersendung richtete sich nicht etwa an die Mittelschicht, sondern an sozial schwächere Familien.
Die Sesamstraße ist eine fiktionale Straße mitten in New York, mit rauchenden Gullys und scheppernden Mülltonnen, in denen sogar jemand wohnt: Oscar, ein wuscheliges Monster mit chronisch schlechter Laune und einer Vorliebe für Müll.
Auf den Treppen vor den Häusern spielen die Kinder und lassen sich mal von den Puppen, mal von den Erwachsenen die Welt erklären.
Eine bunte Welt für Kinder
Die Welt der Erwachsenen ist dabei – ganz wie in einer echten Großstadt – genauso bunt und vielfältig wie die von Ernie und Bert, Grobi und dem gelben Riesenvogel Bibo.
Denn neben Menschen mit weißer Hautfarbe leben in der fiktiven Straße auch schwarze Amerikaner, Hispanics und Asiaten. Die Multikulti-Gesellschaft war allerdings beim Sesamstraßen-Start 1969 – nur kurze Zeit nach der Ermordung Martin Luther Kings 1968 – alles andere als alltäglich in den USA.
So wurde die "Sesame Street", so der Originaltitel, anfangs von vielen Menschen mit Befremden aufgenommen. Einige Eltern gingen sogar auf die Straße, um gegen die Sesamstraße zu demonstrieren.
Doch der Protest nützte wenig. Es dauerte nicht lange, bis die Sesamstraße, die am 10. November 1969 zum ersten Mal in den USA ausgestrahlt wurde, die meistgesehene Kindersendung in Amerika war.
Die Sendung gewann drei Emmys, und Bibo, der große gelbe Vogel, schaffte es 1970 sogar auf das Cover des "Time Magazine". So viel Erfolg sprach sich herum und bald wollten auch andere Fernsehnationen die Serie übernehmen.
Streit um die Sesamstraße
Der erste Sender weltweit, der die Rechte erhielt, war der Norddeutsche Rundfunk (NDR). Am 8. Januar 1973 lief die "Sesamstraße" zum ersten Mal in Deutschland im Fernsehen.
Wie auch in den USA ließ die Kritik nicht lange auf sich warten. Der Bayerische Rundfunk (BR) strahlte die Serie zunächst nicht aus. Dem damaligen BR-Fernsehdirektor Helmut Oeller war die Sesamstraße "zu amerikanisch", denn in Deutschland gebe es keine unterprivilegierten Kinder.
Auch das renommierte "Zeit-Magazin" meldete sich kritisch zu Wort, genauso wie Erziehungswissenschaftler und Eltern, die das Programm für ihre Kinder nicht angemessen fanden.
Kritisiert wurde unter anderem, dass die Serie zu schnell und zu unterhaltend sei. Die Beiträge seien in ihrer Machart zu sehr an Werbung angelehnt.
Aber es gab auch Befürworter. Und so wurde die Sesamstraße zu dem Medienthema der 1970er-Jahre. Die Bundesregierung ließ eine Forschungsarbeit über den Nutzen der Sesamstraße für Vorschulkinder erstellen. Das interessante Ergebnis: Zwar profitieren Kinder der "Unterschicht" von dem Programm, Kinder der "Mittel- und Oberschicht" allerdings in noch größerem Ausmaß.
Die kleinen Zuschauer interessierte die ganze Aufregung wenig: Sie liebten ihre Sesamstraße – ganz gleich, wie kontrovers die Erwachsenen darüber diskutierten.
Die deutsche Sesamstraße: Tiffy, Samson und Co
Im deutschen Fernsehen lief zunächst eine Mischung aus deutschen und synchronisierten amerikanischen Filmclips. In den Einspielern ging und geht es in der Regel um Zahlen oder Buchstaben.
Die Clips dauern selten länger als drei Minuten und leben unter anderem von Wiederholungen und Übertreibungen – damit ähneln sie in ihrer Dramaturgie einem Werbespot.
Nach 250 Folgen änderte die Redaktion das Konzept. Die Rahmenhandlung, die zunächst auf einer Straße (eben der Sesamstraße) spielte, wurde nach und nach "eingedeutscht", bis sie 1978 mit einer komplett deutschen Version ganz verschwand.
Von 1978 an waren dann der tapsige Bär Samson und die altkluge Tiffy im deutschen Fernsehen mit dabei. Für die Entwicklung der beiden schickte der legendäre Puppenbauer Jim Henson eigens Mitarbeiter aus New York nach Hamburg.
Auch viele deutsche Schauspieler traten in der Sesamtsraße auf. Zu den ersten gehörten Lilo Pulver, Henning Venske und Manfred Krug. In den USA schauten Weltstars wie beispielsweise Diana Ross und später auch Bill Clinton, Michelle Obama und Kofi Annan vorbei.
Der deutsche Titelsong der Sesamstraße ist heute ein Klassiker: "Der die das, wer wie was, wieso weshalb warum – wer nicht fragt, bleibt dumm."
Viele Kritiker sehen allerdings in der "neuen" Sesamstraße eine weichgespülte Version, die nur noch wenig mit dem frechen, anarchischen Original zu tun hat. Doch Fans hat die Sesamstraße immer noch genug. In Deutschland gibt es seit Sommer 2009 sogar einen "Ableger" der Sesamstraße: "Eine Möhre für Zwei".
Wie geht es weiter?
Die Serie "Eine Möhre für Zwei" läuft seit 2010 parallel zur Sesamstraße. Die Hauptrollen spielen das Schaf Wolle und das Pferd namens Pferd. Beide Puppen haben in der amerikanischen Version nur kleine Rollen.
Wolle beispielsweise musste sich vorher mit der Rolle eines "Wurfschafs" begnügen, das ab und an durch das Bild fliegen durfte. Wie in der Sesamstraße auch, geht es bei Wolle und Pferd um den Alltag der Kinder. Pädagogische Inhalte treten bei beiden Sendungen eher in den Hintergrund. Es geht um Ängste, schlechte Laune, Versprechen und vieles mehr.
Gesellschaftliche Themen in der Sesamstraße
Auch im amerikanischen Original haben sich die Inhalte geändert. So gab es kurz nach dem Anschlag auf das World Trade Center eine Folge, in der Elmo Angst vor einem Feuer hat.
Eine weitere Neuheit in Amerika: Um den Kindern eine gesunde Ernährung näherzubringen, bekommt das Krümelmonster nur noch in Ausnahmefällen Kekse – und dann natürlich aus Vollkorn. Stattdessen stehen Äpfel und Kohlrabi auf dem Speiseplan des zotteligen Kinderlieblings. Außerdem zeigte 2010 die damalige First Lady Michelle Obama den Kindern, wie man einen Gemüsegarten anlegt.
Trotz aller Wandlungen: Die Sesamstraße ist nach wie vor ein Renner im Kinderfernsehen. Sie läuft in mehr als 120 Ländern. In Südafrika beispielsweise gibt es seit 2002 eine Figur namens Kami, die HIV-positiv ist und den Kindern das Thema Aids näherbringen soll.
(Erstveröffentlichung: 2013. Letzte Aktualisierung: 11.08.2020)