Bild von Hieronymus Bosch: Menschen steigen an der Hand von Engeln aus dem Dunkel durch einen Tunnel ins Licht

Sterben

Nahtod – Ein Blick ins Jenseits?

Beim Sterben verlässt man seinen Körper und schwebt über dem Geschehen – von solchen Nahtod-Erlebnissen berichten Menschen aus vielen Kulturen und Altersgruppen. Forscher vermuten, dass eine erhöhte Aktivität des Gehirns für diese Eindrücke verantwortlich ist.

Von Monika Sax

Begegnung mit einem allwissenden Wesen

Am 10. November 2008 wacht der amerikanische Neurochirurg Eben Alexander mit fast unerträglichen Kopfschmerzen auf. Zwei Stunden später findet ihn seine Frau auf dem Bett liegend, krampfend, mit nach hinten gerollten Augen. Die nächsten sieben Tage verbringt er auf der Intensivstation, näher am Tod als am Leben.

Der Grund ist eine extrem seltene Form der Gehirnhautentzündung, bei der Alexanders Gehirnfunktionen nach und nach versagen. Während die Ärzte noch fieberhaft versuchen herauszufinden, was genau Alexander fehlt, hat er sich bereits in eine andere Wirklichkeit verabschiedet.

In seinem Buch "Blick in die Ewigkeit" beschreibt Alexander später sein Nahtoderlebnis. Er spricht von einem "Ort der pulsierenden, hämmernden Dunkelheit" und von einer fantastischen Traumwelt. Mitten in dieser Welt sei ihm ein allwissendes Wesen begegnet, der Mittelpunkt des Universums. Er habe sich wissend und glücklich gefühlt. Die wichtigste Entdeckung sei "die bedingungslose Liebe und Akzeptanz" gewesen, die er erfahren habe.

Eben Alexander lag eine Woche im tiefen Koma, die Ärzte erwogen zwischenzeitlich, die Geräte abzustellen. Vor seinem Nahtoderlebnis war er "strikt ein Mann der Wissenschaft" gewesen, sagt er – doch sein Nahtoderlebnis habe ihn von einer göttlichen Existenz überzeugt.

Porträtfoto von Eben Alexander

Der Neurochirurg Eben Alexander

Bewusstsein außerhalb des Körpers?

Menschen verschiedener Kulturen, Religionen, unterschiedlichen Alters und aus allen sozialen Schichten berichten Ähnliches von ihren Nahtoderlebnissen; auch dann, wenn die Betroffenen noch nie von dem Phänomen "Nahtod" gehört haben.

Wie bei Alexander beginnt es oft mit einer außerkörperlichen Erfahrung: Der Betroffene hat das Gefühl, seinen Körper zu verlassen und zu schweben.

Viele Menschen sehen bei Nahtoderlebnissen ihren Körper von oben, spüren keine Schmerzen und Ängste mehr. Sie beobachten die Situation aus der Vogelperspektive und können teilweise sehr konkret von Gesprächen der Ärzte oder Kleinigkeiten im OP-Saal erzählen.

Blick auf ein Ärzteteam bei einer Operation von oben

Viele Betroffene berichten vom Gefühl, über dem eigenen Körper zu schweben

So berichtete der niederländische Kardiologe und Nahtodforscher Pim van Lommel von einem Patienten, dem ein Pfleger während der Wiederbelebung sein Gebiss entfernte und vergaß, wo er es hingelegt hatte. Etwa eine Woche später sah der Patient den Pfleger wieder und sagte: "Oh, dieser Pfleger weiß, wo meine Prothese liegt. Er hat sie doch entfernt und dann auf einen Wagen mit vielen Schubladen gelegt."

Ob dieses Wissen Zeichen für ein Bewusstsein außerhalb des Körpers oder rein medizinisch erklärbar ist, darüber gibt es unter Wissenschaftlern eine intensive Auseinandersetzung.

Sehnsucht nach dem Glücksgefühl

Nahtoderlebnisse sind kein neues Phänomen. Die älteste Erzählung, in der Nahtoderlebnisse erwähnt werden, ist das Gilgamesch-Epos, eine der ältesten überlieferten Dichtungen aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus.

Auch das ägyptische Totenbuch etwa 1600 vor Christus, Homers Odyssee etwa 700 vor Christus, das Tibetische Totenbuch etwa 800 nach Christus sowie die apokalyptischen Bilder des Malers Hieronymus Bosch aus dem 15. Jahrhundert enthalten Darstellungen von Nahtoderfahrungen.

Eines scheint bei allen Nahtoderlebnissen gleich zu sein: Sie sind mit sehr starken Gefühlen verbunden. Hochgefühle, Euphorie oder das eisige Grausen − unvergesslich ist die emotionale Tiefe dieser Erfahrungen.

Gemälde von Rubens, der "Höllensturz der Verdammten".

Es gibt beglückende und beängstigende Nahtoderfahrungen

Viele Menschen mit Nahtoderlebnissen werden danach stark gläubig. Viele haben das Gefühl, noch eine wichtige Aufgabe im Leben erfüllen zu müssen, und genießen das Leben intensiver als vor dem Nahtoderlebnis.

Nur eine Täuschung des Gehirns?

Die Mehrheit der Wissenschaftler versucht, Nahtoderlebnisse mit der Aktivität des Gehirns zu erklären. Eine Studie der Universität Michigan zeigte 2013: Die Aktivität im Gehirn von Ratten steigt 30 Sekunden nach Eintreten des Herztodes steil an. Das sei "wie ein Feuer, das durchs Gehirn rast". Die Gehirne seien dabei aktiver als bei normalem Bewusstsein.

Wenn die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, würde dies darauf hinweisen, dass uns das sterbende Gehirn noch einmal außergewöhnliche Erlebnisse beschert.

Der Leipziger Neurologe Birk Engmann hat sich in seinem Buch "Mythos Nahtoderfahrung" kritisch mit den Berichten von Menschen mit Nahtoderlebnissen auseinandergesetzt. "All diese Phänomene können auch bei Patienten mit Epilepsie oder unter Drogeneinfluss vorkommen", meint Engmann. Bei Migräneanfällen, Schizophrenie, Meditation oder Stress erleben manche Personen ebenfalls eine "außerkörperliche Erfahrung".

Schuld daran ist offenbar ein Hirnareal im Grenzbereich von Schläfen- und Scheitellappen, wie Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne herausfanden. Diese Hirnregionen sind wichtig für das Selbsterleben des eigenen Körpers und seiner Verortung im Raum. Wird diese Region aktiviert, kann es zu einer außerkörperlichen Erfahrung kommen.

Auch die Flut an Lebenserinnerungen, von denen viele Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten, könnte mit der gestörten Funktion bestimmter Hirnareale zusammenhängen. Lichtvisionen können im Hinterhauptslappen entstehen, der visuellen Input verarbeitet, obwohl gar kein Licht da ist.

Gehirn mit Gehirnregionen in unterschiedlichen Farben.

Ist das Jenseits eine Erfindung des Gehirns?

Forschung im Grenzbereich

Kann der menschliche Geist im Angesicht des Todes wirklich in Sphären vordringen, die wissenschaftlich nicht erklärbar sind? Oder beschert uns unser Gehirn lediglich Halluzinationen, die sich absolut real anfühlen? Hirnforscher sehen keinen Hinweis darauf, dass Nahtoderfahrungen übersinnliche Erlebnisse sein könnten.

Bei der so genannten AWARE-Studie von 2014 (Awareness during Resurrection, zu deutsch: Bewusstsein während der Wiederbelebung) befragten Ärzte an mehr als 30 britischen und amerikanischen Kliniken insgesamt 1500 Patienten. Sie alle hatten von Nahtod- und außerkörperlichen Erfahrungen berichtet, nachdem sie einen Stillstand von Herz oder Hirn erlitten hatten und wiederbelebt werden konnten.

Die Studie ergab: Rund 46 Prozent konnten von Erinnerungen aus der Zeit ihrer Wiederbelebung berichten. Zwei Prozent der Befragten waren dabei offenbar sogar bei vollem Bewusstsein. Dennoch ist die Aussagekraft der Studie gering, weil die Zahl der Befragten im Vergleich zu den gesamten Sterbezahlen relativ klein ist.

Menschen, die es selbst erlebt haben, sind dagegen meist davon überzeugt, dass sie einen Blick ins Leben nach dem Tod werfen konnten.

Die Silhouette einer Tänzerin verwandelt sich vom Realen ins Durchsichtige.

Lebt etwas von uns nach dem Tod weiter?

(Erstveröffentlichung: 2013. Letzte Aktualisierung: 02.06.2021)

Quelle: WDR

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