Alter
Altern
Die Lebenserwartung in Deutschland steigt beständig, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen. Wer heute in Deutschland auf die Welt kommt, hat die Chance, bis zu hundert Jahre alt zu werden. Das Altern lässt sich also hinauszögern – aber nicht aufhalten.
Von Inka Reichert, Jochen Zielke
Marathon im hohen Alter
70 bis 90 Kilometer legt Klemens Wittig, geboren 1937, jede Woche in seinen Joggingschuhen zurück. 2017 lief er Europarekord im Marathon in seiner Altersklasse: drei Stunden, 39 Minuten und 54 Sekunden.
"Ich war schon immer viel in Bewegung, doch das Laufen habe ich erst mit 42 begonnen", sagt der Dortmunder. Wittig hat sich bereits unzählige Medaillen erlaufen, auf nationalen wie internationalen Wettkämpfen.
Klemens Wittig steht für eine Generation von Rentnern, die auch im Alter noch aktiv ist. Alte Menschen achten heute deutlich stärker auf ihre Gesundheit. Das hat eine Befragung des Allensbacher Instituts für Demoskopie mit rund 4000 65- bis 85-Jährigen gezeigt.
So trieben 1968 gerade einmal fünf Prozent der über 65-Jährigen in Westdeutschland überhaupt Sport. Heute sportelt mehr als ein Drittel mindestens einmal in der Woche, und mehr als ein Fünftel sogar mehrmals wöchentlich.
Auch im Alter fit: der Marathonläufer Klemens Wittig
Wer sich fit hält, lebt gesünder
Die Menschen in Deutschland werden älter – doch im Vergleich zu früher bewegen sich die Alten von heute mehr. Sie scheinen damit gesünder zu leben.
So ist in den vergangenen Jahrzehnten das Risiko, im Alter pflegebedürftig zu werden, nicht proportional zur Lebenserwartung angestiegen. Es ist sogar leicht gesunken, wie eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Universität Rostock zeigt.
"Der medizinische Fortschritt, aber auch die veränderten Lebensbedingungen spielen dabei die größte Rolle", sagt die Autorin der Studie, Gabriele Doblhammer-Reiter vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels.
Vor allem der Lebensstil und die Lebensumstände beeinflussen die Lebenserwartung eines Menschen. Die Chance auf ein langes Leben wird nur zu etwa einem Viertel durchs Erbgut bestimmt, wie Zwillingsstudien zeigen. Es reicht auch nicht, allein im hohen Alter einen gesunden Lebensstil zu pflegen.
"Schon die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft entscheidet über die Lebensspanne ihres Kindes", sagt Doblhammer-Reiter.
Die ersten Jahre eines Menschen beeinflussen die Lebenserwartung vermutlich sogar bis zu zehn Prozent. Denn eine Reihe von Alterskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck lassen sich mitunter auf früheste Lebenseinflüsse zurückführen. Die soziale und finanzielle Situation, die Bildung sowie ein gesunder Lebensstil spielen hingegen erst später eine wichtige Rolle.
"Mein persönliches Geheimnis ist der Schlaf", sagt der Marathonläufer Klemens Wittig. Mit regelmäßig acht bis neun Stunden pro Nacht erhole und regeneriere sich sein Körper ausreichend. "Dann habe ich wieder Energie für den kommenden Tag", sagt er.
Frauen überleben Männer
Dass sich der Lebensstil auf die Lebenserwartung auswirkt, zeigt sich im Geschlechtervergleich. Frauen leben bewusster – und daher häufig länger als Männer: Ein Junge, der heute in Deutschland geboren wird, wird der Statistik nach 78 Jahre und sieben Monate alt. Ein Mädchen wird im Schnitt 4,7 Jahre älter (Stand: 2017).
"Frauen rauchen zum Beispiel weniger", sagt Doblhammer-Reiter. Manche Forscher gehen davon aus, dass die Hälfte der Altersdifferenzen zwischen Männern und Frauen auf das Rauchverhalten zurückzuführen sind.
"Männer sind zudem risikofreudiger. Sie sterben öfter durch nicht natürliche Todesursachen, etwa Verkehrsunfälle oder Suizid", fügt die Forscherin hinzu.
Dass Frauen im Schnitt älter werden als Männer, lässt sich auch biologisch erklären. So können etwa Geschlechtshormone im Körper der Frau das Risiko für Herzkreislauferkrankungen verringern.
Vielleicht ein Grund dafür, dass die Französin Jeanne Calment älter wurde als je ein Mensch zuvor: 122 Jahre, fünf Monate und 14 Tage. Und das, obwohl sie bis ins hohe Alter rauchte.
Die Französin Jeanne Calment im Alter von 122 Jahren
Fehler schleichen sich ins Erbgut ein
Was im Körper in den einzelnen Zellen abläuft, wenn ein Mensch altert, wissen Forscher nicht genau. Was sie wissen: Von Rheuma, Diabetes und Osteoporose über Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenzen bis hin zu Krebs entstehen alle Alterskrankheiten infolge zunehmender Erbgutdefekte. Etwas in den Zellen scheint sich mit zunehmendem Alter zu verändern.
Eine verbreitete Erklärung für die Entstehung dieser Gendefekte ist die Freie-Radikal-Theorie. Die Zellen leiden demnach ständig unter oxidativem Stress. Vor allem dort, wo Stoffwechselvorgänge ablaufen, entstehen der Theorie nach in jeder Zelle ständig Radikale.
Diese greifen die Moleküle an, auch die DNA-Stränge, in denen die Erbinformation gespeichert ist, und zerstören deren Struktur. Die Zellen können nicht alle Schäden reparieren. Im Laufe eines Lebens häufen sich die Fehler im Erbgut. Die Zelle altert – und somit der gesamte Organismus.
"Die Freie-Radikal-Theorie ist jedoch sicher nur ein Teil der Erklärung", sagt Adam Antebi vom Max-Planck-Institut für die Biologie des Alterns in Köln. Es gebe viele andere, teils noch unentdeckte Mechanismen, die dazu führen, dass die Zellen ihre Funktionen verlieren.
Die Zeit nagt am Erbgut des Menschen
Falten für die Fortpflanzung?
Man könnte meinen, dass sich in der Evolution vor allem jene Lebewesen durchsetzen, die besonders gut darin sind, Schäden in den Zellen zu reparieren.
Wer seine Zellen am besten repariert, wird am ältesten, könnte man meinen. Die Evolution müsste jene Lebewesen bevorzugen. "Ein Organismus ist fitter, also reproduktiver, wenn er jung und gesund bleiben kann", sagt David Thomson, Evolutionsbiologe am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Doch würde das zutreffen, wären Eintagsfliegen wohl schon lange ausgestorben.
Um dieses Paradox zu erklären, haben sich bis heute unzählige Theorien entwickelt. Eine der bekanntesten ist die von George C. Williams. Der Evolutionsbiologe aus den USA sagt, dass das Altern umso schneller voranschreitet, je gefährlicher die Umgebung des Individuums ist – je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass es zum Beispiel verhungert oder gefressen wird.
Anstatt einen Organismus lange instand zu halten, der ohnehin bald sterben muss, lohnt es sich demnach, einen schnelleren Alterungsprozess in Kauf zu nehmen, um möglichst viele gesunde Nachkommen zu produzieren.
Dass diese Theorie gar nicht so abwegig ist, zeigt ein Experiment des Max-Planck-Instituts für die Biologie des Alterns. Die Wissenschaftler entnahmen dem Fadenwurm C. elegans die Keimzellen, so dass dieser sich nicht mehr fortpflanzen konnte.
Und tatsächlich: Durch den Eingriff wurde offenbar ein molekularer Schalter umgelegt, der die Lebensspanne des Tieres um bis zu 60 Prozent verlängerte.
Die Forscher konnten dabei auch den biologischen Mechanismus verfolgen: Demnach löst der verbleibende Teil der Keimdrüse die Produktion von Dafachronsäure aus. Das Hormon aktiviert mithilfe von microRNA bestimmte Teile des Erbguts – was dazu führt, dass der Wurm länger lebt.
"Der Organismus kann also zwischen zwei Zuständen wählen: dem Überlebens- und dem Fortpflanzungsmodus", sagt der Studienleiter Adam Antebi. Welcher Modus aktiviert ist, hänge von der Situation ab: Ist es gerade wichtiger sich schnell fortzupflanzen, um Art zu erhalten, oder geht es ums eigene Überleben?
"Wir wissen, dass in Säugetieren die gleichen microRNA vorkommen, wie die des Rundwurms", sagt Antebi. Es sei also möglich, dass ein ähnlicher Mechanismus auch die Lebenserwartung eines Menschen beeinflusse.
Fadenwürmer ohne Keimzelle leben länger
(Erstveröffentlichung 2007. Letzte Aktualisierung 14.11.2019)
Quelle: SWR/WDR