Sprechende Bilder
Wenn Kinder im Vorschulalter ihre Alltagswelt malen, haben die Häuser oft schiefe Dächer, die Menschen mehr als fünf Finger und die Sonnenstrahlen erinnern an ein angriffslustiges Stachelschwein. Ein Gefühl für räumliche Tiefe und Perspektive existiert noch nicht.
Trotzdem verstehen die Eltern meist jedes Detail, "jedes Wort" des Bildes. Auch wenn der Papa auf dem Bild 27 Finger hat, kann er sich selbst erkennen. Der erwachsene Betrachter kann also abstrahieren. Und auch die Sonne erkennen wir auf Kinderbildern schnell, selbst wenn sie noch so krakelig und phantasievoll gemalt wurde. Hauptsache sie ist gelb, verfügt über Strahlen und steht am oberen Bildrand.
Dann nämlich entspricht der gelbe Tupfer dem inneren Musterbild, das wir in uns von der Sonne angelegt haben – wir erkennen also die Sonne auf dem Bild, ohne dass wir die wirkliche Sonne sehen.
Piktogramme und Bilderschrift
Dieses Grundprinzip der menschlichen Abstraktion ist der Schlüssel zur Schrift. Am Anfang der Entwicklung der Schrift steht die Bilderschrift. Die ägyptische Schrift und die chinesische Schrift etwa entwickelten sich aus bildlichen Symbolen, aus Piktogrammen, die aneinandergereiht eine Geschichte erzählen.
Piktogramme werden nicht wie Schriftzeichen gelesen, sondern gedeutet. Auch anderssprachige Menschen konnten Bilderschriften lesen. Fehlinterpretationen waren allerdings leicht möglich.
Die ältesten Schriften waren Bilderschriften mit Zeichen für Menschen, Pflanzen, Tiere und Gegenstände. Denn vor allem gegenständliche Begriffe ließen sich abbilden, etwa für Haus, Frau, Mann, Vogel oder Wasser. Auch heute nutzen wir noch international geltende, sprachlich unabhängige Piktogramme wie zum Beispiel das Zeichen für "Rauchen verboten".
Das versteht jeder
Doch Sprache ist komplex. Mit einfachen Piktogrammen kam der Mensch bald nicht mehr weiter, wenn Worte und Inhalte dargestellt werden sollten, die sich nicht verbildlichen lassen. Ein Beispiel dafür sind Adverbien (vielleicht, leider, dennoch, nämlich) oder auch verschiedene Zeitformen von Verben (sie kommt, sie kam, sie käme, sie wird kommen).
Nach dem Schriftexperten John DeFrancis ist "echte" Schrift "ein System grafischer Zeichen zur Übermittlung jeglicher und sämtlicher Gedanken". Um aber zu einem so differenzierten System zu gelangen, wie es beispielsweise die heutige lateinisch-deutsche Schrift darstellt, waren weitere Schritte der Abstraktion nötig.
Vom Ideogramm zum Buchstaben
Zur Darstellung komplizierter Sachverhalte wurden bald sogenannte Ideogramme entwickelt, also Zeichen für abstrakte Begriffe: zum Beispiel laufende Beine für "gehen" oder ein Sternenhimmel für "Nacht" oder "dunkel". Ideogramme und Piktogramme wurden im Laufe der Zeit bald immer symbolischer und abstrakter, während sie sich gleichzeitig immer mehr an einen Laut oder eine Silbe anlehnten.
Irgendwann entstand ein so sehr abstrahiertes Schriftzeichen, dass es einer künstlichen Verständigung oder einer Festlegung darüber bedurfte, was das Zeichen bedeutet.
Ab diesem Moment konnte der Mensch ein Zeichen nicht mehr verstehen, wenn er dessen Bedeutung nicht kannte, nicht gelernt hatte. Es begann der Prozess des Lesens, und der Mensch musste das Lesen und die Rechtschreibung lernen. Damit wurde die Schwelle zur Buchstabenschrift überschritten.
Einzelne Buchstaben werden zu Worten kombiniert
Ein Buchstabe machte für sich allein keinen Sinn mehr. Dafür konnte man lernen, einzelne Buchstaben miteinander zu Worten zu kombinieren und dadurch sehr komplexe Sachverhalte wiederzugeben.
Moderne Schriftsysteme sind also einerseits sehr vielschichtig, andererseits dadurch viel genauer als frühe Bildschriften. Die Entwicklung der Schrift brachte in ihrem späten Stadium Zeichen hervor, die sich intuitiv nicht mehr erschließen und verstehen ließen. Schrift, Lesen und Schreiben – ein System, das der Mensch nur erlernen kann, die Beherrschung ist ihm nicht angeboren. Die Schrift ist also eine menschliche Kulturleistung.
(Erstveröffentlichung 2004. Letzte Aktualisierung 20.06.2020)
Quelle: SWR