Eine Frage des Instinkts?
Für Charles Darwin war das Phänomen des Altruismus mit seiner Evolutionstheorie nicht vereinbar. Der britische Forscher hatte doch herausgefunden, dass es unter anderem auf Stärke und Durchsetzungsvermögen ankomme. Wenn also ein Lebewesen freiwillig seine Ansprüche zugunsten eines anderen zurückstelle, komme es zu kurz und könne nicht überleben.
Es ist der andere (lateinisch: alter), den man über die eigenen Interessen stellt. Beispiele dafür gibt es in unserer Gesellschaft zuhauf: Wir geben Trinkgeld im Restaurant, auch wenn wir vielleicht nie wieder dorthin kommen. Haben irgendwo auf der Welt Naturgewalten Zerstörung und Leid hinterlassen, spenden wir Geld für die Nothilfe.
Ein Paradebeispiel für altruistisches Verhalten ist auch ehrenamtliches Engagement – in Vereinen oder sozialen Einrichtungen. Materiell gesehen bringt uns das keinen Gewinn. Im Gegenteil: Wir opfern einen Teil unseres Besitzes und unserer Freizeit, die uns ansonsten mit die höchsten Güter sind.
Und trotzdem gibt es dafür einen Gegenwert. Wer sich für das Wohl der anderen einsetzt, dessen Ansehen steigt. Das kann schließlich doch zum Vorteil gereichen.
Menschen, die dafür bekannt sind, dass sie kooperativ sind, genießen größeres Vertrauen in der Gesellschaft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihnen selbst auch Gutes getan wird.
Auf Kooperation getrimmt
Ist Altruismus also nur eine andere Form des Egoismus? Wissenschaftler glauben nicht, dass wir anderen ausschließlich deswegen helfen, weil wir auf den persönlichen Eigennutz spekulieren. Dennoch spiele der Gedanke an einen Vorteil sehr wohl eine Rolle – wenn auch nicht bewusst.
Ob wir helfen oder nicht, gibt unser Instinkt vor. Denn das menschliche Gehirn ist auf Kooperation getrimmt. Das garantiert soziale Anerkennung und Akzeptanz, was wiederum Zufriedenheitsgefühle und Wohlbefinden auslöst. Faktoren, die durchaus der Gesundheit förderlich sind.
Dementsprechend sind Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass Menschen, die sich für andere einsetzen, nicht so oft kränkeln und ein längeres Leben haben.
Helfen wir anderen nur, damit wir uns selbst besser fühlen?
Selbstaufgabe für die Gemeinschaft
Der Mensch ist nicht das einzige Lebewesen, das sich für andere zurückstellt. Elefanten stützen oder tragen verletzte Herdenmitglieder mit ihren Stoßzähnen. Arbeiterbienen in einem Bienenstock haben keinen Nachwuchs, weil sie sich um die Brut der Königin kümmern und Eindringlinge bekämpfen.
Arbeiterbienen stellen sich in den Dienst der Königin
Das nordamerikanische Belding-Ziesel, eine Erdhörnchenart, riskiert sogar das eigene Leben, um nächste Verwandte vor Feinden zu warnen. Auf den ersten Blick wirkt das rätselhaft, aber so können Ziesel die eigenen Erbanlagen weitergeben. Denn die sind teilweise im Erbmaterial der Familie vorhanden.
Interessanterweise tun das auch die Tiere, die keine Nachkommen haben, sondern ausschließlich Geschwister oder weitläufigere Verwandte. So liegt die Genübereinstimmung von Geschwistern statistisch bei 50 Prozent. Fällt das warnende Ziesel also dem Angreifer zum Opfer, kann es dadurch aber mindestens zwei Geschwistern das Leben retten, werden seine Gene von diesen weitergetragen.
Gleiches gilt, wenn sich vier Halbgeschwister in Sicherheit bringen können, denn sie teilen mit dem Retter 25 Prozent der Erbanlagen. Besteht keinerlei Verwandtschaftsverhältnis, bleibt ein Warnruf aber aus.
Eine Solidargemeinschaft, in der alle voneinander profitieren
Ist Altruismus im Tierreich eher an einen genetischen Zusammenhang geknüpft, handelt der Mensch nach dem Prinzip der "Indirekten Reziprozität". Das bedeutet, nicht nur Familienmitglieder können in die Gunst seines Wohlwollens kommen. Auch Fremden wird geholfen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Hilfsbedürftige sich später beim Helfenden revanchiert.
Dahinter steckt die Regel: "Ich helfe dir und du hilfst jemand anderem oder jemand anderes hilft mir." So kann eine Solidargemeinschaft entstehen, in der alle voneinander profitieren. Voraussetzung ist natürlich, dass sich alle an diese Regel halten. Egoistisches Verhalten, das auf persönliche Gewinnmaximierung aus ist, kann ein solches System zerstören.
Schwarze Schafe wird es aber immer geben. Die Mitglieder einer Solidargemeinschaft müssen in der Lage sein, die Schmarotzer zu erkennen und sich zu merken, damit sie zukünftig gemieden werden können. Dazu bedarf es hoher kognitiver Fähigkeiten.
Außerdem müssen diese Erfahrungen mit Trittbrettfahrern den anderen sprachlich kommuniziert werden können. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das dazu in der Lage ist.
Mit Altruismus gegen Umweltzerstörung
Wissenschaftler wie der Klimaexperte Ernst Ulrich von Weizsäcker meinen, dass der Mensch durch altruistisches Verhalten sogar den Raubbau an der Natur eindämmen könne. Weniger Verbrauch heute zugunsten derer von morgen. Er schlägt vor, dass diejenigen, die zu viel Energie verbrauchen, bestraft werden. Diejenigen, die sich umweltgerecht verhalten, sollen dagegen belohnt werden.
Ansetzen will von Weizsäcker beim Energiepreis: Wenn der kontinuierlich und verträglich angehoben würde, müsste auch die Industrie reagieren. Hersteller wären gezwungen, weniger Rohstoffe einzukaufen, mit denen sie aber effizienter produzieren müssten. Ansonsten würde ihr Produkt zu teuer. Tun die Hersteller das nicht, erfolgt die Bestrafung durch den Konsumenten: Er verweigert den Kauf.
Sollten diejenigen bestraft werden, die dem Klima schaden?
Quelle: SWR | Stand: 31.03.2020, 11:29 Uhr