Ein Tag bei der Tafel
Planet Wissen . 26.11.2019. 04:47 Min.. Verfügbar bis 26.11.2024. WDR.
Armut in Deutschland
Die "Tafeln" in Deutschland
Die Mitarbeiter der sogenannten "Tafeln" in Deutschland holen überschüssige Lebensmittel von großen Lebensmittelkonzernen ab und geben sie an Bedürftige weiter. Damit sorgt die Hilfsorganisation dafür, dass viele Menschen keinen Hunger leiden müssen.
Von Daniel Schneider
Wer kauft bei der Tafel ein?
Christa kommt immer am Montag zur Duisburger Tafel. Einmal in der Woche kauft die Rentnerin dort ein und sichert sich so ihr Überleben. Christa bekommt nur eine kleine Rente und dazu eine Grundsicherung. Wenn von diesen geringen Einnahmen noch Fixkosten wie zum Beispiel die Miete abgezogen werden, dann bleibt nicht mehr viel für andere Dinge.
So wie Christa geht es laut Tafel Deutschland e.V. rund 1,5 Millionen Menschen in ganz Deutschland, die jedes Jahr von dieser Institution unterstützt werden. Wer Wohngeld, Sozialhilfe, Hartz IV oder eine Grundsicherung bekommt, darf bei den Tafeln einkaufen.
Die Hilfsorganisation versorgt Bedürftige mit Lebensmitteln, Kleidung, Hygieneartikeln und sogar Möbeln. Die meisten Tafelkunden sind Erwachsene im erwerbsfähigen Alter. Aber auch viele Rentner, Kinder und Jugendliche werden von der Tafel versorgt.
Gegen einen kleinen, symbolischen Geldbetrag kann sich Christa so mit dem Nötigsten versorgen. Sie und die vielen anderen Menschen, die bei der Tafel einkaufen, werden als Kundinnen und Kunden angeredet und auch so verstanden. Denn auch wenn die Menschen wenig Geld haben, ist es ihnen ein Bedürfnis, wenigstens eine Kleinigkeit zu bezahlen, um so ihre Würde zu wahren.
Die Geschichte von Christa
Planet Wissen . 26.11.2019. 03:17 Min.. Verfügbar bis 26.11.2024. WDR.
Wie sind die Tafeln in Deutschland entstanden?
In Deutschland gibt es mehr als 940 Tafeln. Die Arbeit wird überwiegend von ehrenamtlichen Mitarbeiterin getragen: Mittlerweile sind es rund 60.000 Menschen, die Sachspenden abholen, sortieren und an Bedürftige ausgeben.
Die erste Tafel wurde 1993 in Berlin gegründet. Engagierte Frauen wollten vor allem die Situation der Obdachlosen der Stadt verbessern. Dabei orientierten sich die Gründerinnen an einer Organisation in den USA: der New Yorker "City Harvest". Hier werden Lebensmittel, die als überschüssig gelten, an bedürftige Menschen und an soziale Einrichtungen weitergegeben.
Eine gute Idee, die sich auch in Deutschland schnell verbreitete. Im Oktober 1994 gründeten sich die Münchener und die Neumünsteraner Tafel, im November 1994 dann die Hamburger Tafel.
Um der sich schnell verbreitenden Idee eine Struktur zu geben, entstand 1995 der "Dachverband Deutsche Tafelrunde", der wenig später in "Bundesverband Deutsche Tafel e.V." umbenannt wurde. 2017 änderte der Dachverband noch einmal seinen Namen in "Tafel Deutschland e.V.".
Das Konzept der Tafel: Lebensmittel abholen und an Bedürftige weitergeben
Dieser Verband vertritt die Interessen der Mitglieder, also der einzelnen Tafeln, auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene. Finanziert wird die Arbeit ausschließlich über Geld- und Lebensmittelspenden. Dabei sind die Tafeln vor allem auf Sachspenden vieler Lebensmittelgroßkonzerne angewiesen.
Firmen wie REWE, Aldi und Lidl unterstützen die Tafeln in Deutschland. So finden die überschüssigen Lebensmittel eine sinnvolle Weiterverwendung. Dazu gehören zum Beispiel Lebensmittel mit baldigem Mindesthaltbarkeitsdatum, überschüssige Produktionen und auch Produkte mit kleinen Schönheitsfehlern.
Mittlerweile gehören die Tafeln zur größten sozialen Bewegung der heutigen Zeit. Durch Lebensmittelspenden versorgen sie Bedürftige. Das haben sich andere Nationen abgeschaut: Die Organisation "Feedback" in Südafrika, die Wiener Tafel in Österreich und die Schweizer Tafeln haben sich die Tafelbewegung in Deutschland zum Vorbild genommen.
Ehrenamtliche Tafel-Helfer sorgen dafür, dass Bedürftige versorgt werden
Arm trifft auf arm
In Deutschland sind es vor allem Menschen wie Günter Spikofski, die das Konzept der Tafeln weiterentwickeln. Der gelernte Sozialarbeiter ist Geschäftsführer der Tafel in Duisburg. Er erstellt und koordiniert die Einsatzpläne der Mitarbeiter, kümmert sich um die Logistik, ist vor Ort präsent und damit für die Mitarbeiter und Kunden Hauptansprechpartner.
Neben den administrativen Aufgaben bedeutet das vor allem Beziehungsarbeit, denn oft ist er als Vermittler zwischen den Kunden gefordert. "Gerade im Umgang mit den Kundinnen und Kunden ist eine hohe Flexibilität erforderlich", sagt er. "Einige fühlen sich ungerecht behandelt und denken, dass andere bevorzugt werden. Sie beäugen sich gegenseitig kritisch und lassen das einander auch spüren. Da hilft mir meine Menschenkenntnis, denn ich weiß, dass jeder seine persönliche und tragische Geschichte im Gepäck hat, wenn er zu uns kommt."
Neben zwei Ausgabestellen betreibt die Duisburger Tafel auch noch eine Suppenküche. Hier herrscht meist eine gute Atmosphäre. Die Menschen unterhalten sich, kommen in Kontakt und bekämpfen somit eine häufige und schlimme Nebenwirkung ihrer Armut: die Einsamkeit. So wird die Suppenküche auch zur Begegnungsstätte.
Auch die Duisburger Tafel ist ein Anlaufpunkt für viele Menschen
Verwechslungsgefahr zwischen staatlicher und privater Organisation
Wegen des wachsenden Andrangs kommt es vor, dass Tafelkunden ohne Lebensmittel nach Hause gehen, da bereits alle bereitgestellten Waren vergriffen sind. Das führt zu Unmut bei den Kunden, denn viele glauben, dass die Tafeln eine staatliche Einrichtung seien. Daraus leiten die Kunden ab, dass sie auf jedem Fall mit Lebensmitteln versorgt werden müssten.
Diese Annahme ist falsch, denn als private Hilfsorganisation können die Gaben der Tafel als Geschenk betrachtet werden und gehören nicht zu den Sozialleistungen einer Stadt, einer Kommune oder einem Kreis.
Günter Spikofski hört auch in Duisburg oft Sätze wie "Aber ihr seid doch die Tafel und müsst mich versorgen." Das ärgert ihn. Nicht weil die Kunden die Versorgung fordern, sondern weil dieses Kommunikationsproblem nicht gelöst wird.
"Gerade Menschen ohne deutschen Pass wird auch von den Seiten der Behörden suggeriert, dass die nächstgelegene Tafel sie mit Lebensmitteln versorgt. Und wenn die Menschen aus anderen Ländern dann nicht gut Deutsch sprechen ist doch klar, dass sie denken: “Mensch, die Tafel muss uns versorgen!“ Das können wir aber gar nicht."
Das verdeutlicht auch ein Absatz im Leitbild der Tafeln in Deutschland:
Die Verhinderung von Armut ist vorrangig eine staatliche Aufgabe. Tafel-Arbeit entbindet den Staat nicht von seiner Daseinsfürsorgepflicht. Tafeln arbeiten nicht im öffentlichen Auftrag. Die Tafeln stellen sich aber der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die negativen Folgen von Armut zu lindern. Tafeln nutzen aktiv die Angebote von Spendern, Sponsoren und gesellschaftlich relevanten Unterstützern.
.
Nicht immer sind genügend Lebensmittel für alle da
Arbeit der Tafel – zwischen Hoffnung und Resignation
Viele Menschen nutzen das Angebot der Hilfsorganisation. In Geldern am Niederrhein gibt es sogar einen mobilen Marktstand der Tafel. So lassen sich auch Menschen, die keine Ausgabestelle besuchen können, mit Lebensmitteln versorgen. Vor allem in kleineren Ortschaften haben viele Menschen Schwierigkeiten, die zentralen Ausgabestationen zu erreichen. Der Weg ist oft weit und die Kosten für die öffentlichen Verkehrsmittel sind für sie zu hoch.
Neben den Tafelläden betreiben einige Vereine auch Suppenküchen. Außerdem können ehrenamtliche Helfer in der vom Dachverband organisierten Tafel-Akademie geschult werden. Dort gibt es Seminare zu Themen wie Konfliktmanagement, Lebensmittelkompetenz, Arbeitssicherheit und Integration.
Die Tafelarbeit ist professionell aufgestellt. Das ist für Günter Spikofski zwar ein Qualitätsmerkmal der geleisteten Arbeit, aber eben auch eine sehr traurige Entwicklung. "Dass es uns geben muss, ist auf jeden Fall kein Grund zum Feiern. Letztens habe ich einer Kundin zwei Pfirsiche gegeben und sie hat mich mit Tränen in den Augen angeschaut und gefragt: Wissen Sie eigentlich, wann ich das letzte Mal Pfirsiche gegessen habe? Das rührt mich sehr. Aber es ist eben auch ein Zeichen für die schwierige Situation in unserem Land."
Christa freut sich, dass sie an diesem Montag einmal mit Erdbeeren und einem Strauß Blumen nach Hause gehen kann. Doch die wöchentlichen Tafeleinkäufe haben ihre Spuren hinterlassen. "Ich habe mich an meine Situation gewöhnt", sagt sie. "Ich bin anspruchsloser geworden." Solche Aussagen sorgen bei Günter Spikofski immer noch für Betroffenheit. Und sie treiben ihn gleichzeitig an.
In Geldern gibt es sogar einen mobilen Markstand der Tafel
(Erstveröffentlichung: 2018. Letzte Aktualisierung: 13.07.2020)
Quelle: WDR