Zentrum der Megalithkultur
Etwa 5000 Jahre vor Christus begannen die Menschen, riesige Steine aufzustellen und für die damalige Zeit gigantische Grabanlagen zu errichten. Mehr als 6000 solcher Monumente sind in der Bretagne bereits gefunden worden.
Doch woher kamen diese Menschen überhaupt? Welchen Zweck erfüllten die Anlagen? Und wie wurden sie errichtet? Bis heute gibt diese Kultur den Wissenschaftlern viele Rätsel auf.
Überall in Europa findet man Zeugnisse der Megalithkultur (griechisch: mega = groß, lithos = Stein), doch nirgendwo sind sie so konzentriert wie in der Bretagne. Archäologische Datierungen legen nahe, dass die Kultur im Atlantikraum ihren Ursprung hat. Ihre Zentren liegen in Westfrankreich, auf der Iberischen Halbinsel und in Irland.
Bis heute ist jedoch unklar, warum die Menschen um 5000 vor Christus plötzlich riesige Bauwerke aus Stein errichteten. Für Wissenschaftler ist es äußerst schwierig, diese Kultur zu ergründen, da sie weder schriftliche Zeugnisse noch nennenswerte Siedlungsspuren hinterlassen hat.
Einzig und allein die großen Grabanlagen geben Aufschluss darüber, auf welch hohem technischen Stand die Menschen in der Jungsteinzeit bereits waren.
Der trapezförmige Cairn (gälisch: Steinmal) von Barnenez auf der bretonischen Halbinsel Kernéléhen ist eines der frühesten und imposantesten Bauwerke der Megalithkultur. Das große längliche Grab aus seitlichen Steinplatten und Decksteinen kann komplett begangen werden. Abgedeckt ist es mit einer Vielzahl von behauenen Bruchsteinen.
Das wahrscheinlich älteste Bauwerk Europas
Der Cairn von Barnenez wird auf 4900 vor Christus datiert und ist damit wahrscheinlich das älteste Bauwerk in ganz Europa. Er ist 75 Meter lang, bis zu 25 Meter breit und acht Meter hoch. Elf Gemeinschaftsgräber liegen insgesamt in ihm.
Vielen erscheint es unvorstellbar, wie Menschen vor mehreren tausend Jahren ein solches Bauwerk errichtet haben. Doch Wissenschaftler haben berechnet, dass der Arbeitsaufwand gar nicht so hoch war. Ein paar hundert Arbeiter konnten den Bau innerhalb weniger Monate verwirklichen.
1954 wäre der Cairn fast zerstört worden. Ein Bauunternehmer wollte den von Erde bedeckten Hügel abtragen und stellte erst nach einigen Lastwagenfuhren fest, dass er auf eine archäologische Sensation gestoßen war.
Steintische als Grabstätten
Während die großen Cairns für Gemeinschaftsbegräbnisse genutzt wurden, waren die kleineren Dolmen (bretonisch: dol = Tisch, men = Stein) meist Einzelgrabstätten. Sie bestehen in der Regel aus senkrecht stehenden Steinplatten, auf denen eine oder mehrere große Platten aufliegen. Zu einer Seite ist der Dolmen offen und begehbar.
Ursprünglich waren diese Steintische komplett mit Erde bedeckt, doch die meisten von ihnen sind heute freigelegt, sodass nur noch die Steine übrig blieben. Bisher wurden mehr als 1000 Dolmen in der Bretagne gefunden. Die Dichte dieser Bauwerke lässt Rückschlüsse auf die Bevölkerungszahl zu. Schätzungsweise 100.000 Menschen sollen bereits in der Jungsteinzeit in der Region gelebt haben.
Auch bei den Dolmen stellt sich die Frage, wie Menschen ohne große technische Hilfsmittel Steine von mehreren Tonnen Gewicht aufeinanderschichten konnten. Feldversuche von Archäologen haben jedoch gezeigt, dass es durchaus möglich ist, mit einfachen Mitteln einen Dolmen zu errichten.
Paradebeispiel eines Dolmens
Man geht davon aus, dass zunächst ein Erdhaufen aufgeschüttet wurde. An den Rändern des Haufens wurden Löcher ausgehoben, in die mit Hebelwerkzeugen die seitlichen Platten eingepasst wurden. Anschließend schüttete man eine Erdrampe auf. Der Deckstein wurde dann über Baumstämme auf die Seitensteine gerollt.
Anschließend trug man die Erde im Inneren wieder ab und hatte den perfekten Raum für ein Grab. Die äußere Erdrampe blieb bestehen und wurde weiter über den Deckstein aufgeschüttet. Für diese Bauweise waren nicht mehr als ein paar Dutzend Männer und zwei bis vier Ochsen nötig.
Alleen aus Stein
Sie dürften jedem Asterix-Leser bekannt sein: die gewaltigen Hinkelsteine, die Obelix in seinem kleinen Steinbruch zurechthaut und mit sich herumträgt. Doch bei der Zeitangabe haben die Autoren der Comics ein wenig geflunkert.
Zur Zeit von Asterix, Obelix und Cäsar (um 50 vor Christus) war die Megalithkultur schon lange untergegangen. Wahr ist jedoch, dass man überall in der Bretagne auf Hinkelsteine trifft, die auch Menhire genannt werden (bretonisch: men = Stein; hir = groß).
Nirgendwo sind sie jedoch so konzentriert wie in Carnac. Hier sind die Menhire in drei großen, kilometerlangen Steinreihen aufgestellt. Knapp 2800 Steine sind in Carnac zu finden. Sie wurden im 3. Jahrtausend vor Christus in parallelen Reihen angeordnet. Die Reihen, die teilweise mehr als einen Kilometer lang sind, enden jeweils in einem Oval aus Menhiren, auch Cromlech (gälisch: Steinkreis) genannt.
Carnac gehört neben dem englischen Stonehenge zu den bekanntesten Bauten aus der Megalithkultur. Während die Dolmen relativ einfach als Teil einer jungsteinzeitlichen Begräbniskultur zu deuten sind, geben Menhire und Steinreihen den Wissenschaftlern immer noch viele Rätsel auf. Der Sinn und Zweck dieser Bauten ist bis heute nicht geklärt.
Die Steinreihen von Carnac sind kilometerlang
Legenden und Deutungsversuche
Im Laufe der Zeit gab es die absurdesten Theorien darüber, wer die riesigen Bauwerke aus Stein errichtet haben könnte und welchem Zweck sie dienten. In frühen Zeiten spannen die Menschen noch zahlreiche Legenden um die großen Steine. So hielt sich bis weit in die Neuzeit das Gerücht, nur Riesen, Zauberer, Hexen oder der Teufel hätten die Steine aufrichten können.
In der Bretagne ranken sich bis heute um besonders prägnante Menhire zahlreiche Geschichten. So sollen zum Beispiel zwei dicht nebeneinander stehende Menhire ein zu Stein erstarrtes Liebespaar sein, das die Hochzeitsnacht nicht abwarten konnte und deswegen bestraft wurde. Im Volksmund heißen die Steine auch Jean und Jeanne.
Auch Römer, Wikinger, keltische Druiden, die Bewohner von Atlantis oder Außerirdische wurden als Erbauer in Betracht gezogen.
Ein Liebespaar zu Stein erstarrt?
Heute weiß die Wissenschaft zumindest, wer die Steine errichtet hat. Doch da die Menschen der Megalithkultur keinerlei schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, liegt der Sinn vieler Bauten immer noch im Dunkeln.
Bei den Steinreihen von Carnac hält sich hartnäckig die Theorie von einer astronomischen Bedeutung der Anlage. Da jedoch schätzungsweise nur noch ein Drittel der Steine an ihrem ursprünglichen Platz stehen, wird der Beweis für diese Theorie schwierig.
Andere Wissenschaftler gehen von simplen Grenzmarkierungen aus. Dagegen spricht, dass der Bau einer solchen Anlage für einen derartig profanen Zweck viel zu aufwendig war.
Wiederum andere Wissenschaftler gehen von einer Art sakraler Landschaftsgestaltung aus. Der Mensch sei zu diesem Zeitpunkt gerade erst sesshaft geworden und wollte seinen eben erst eroberten Lebensraum entsprechend "verschönern".
Das Ende der Megalithkultur
Genauso unvermittelt wie die Megalithkultur sich entwickelte, so unvermittelt verschwand sie auch wieder. Bereits im 3. Jahrtausend vor Christus begannen die Menschen damit, kleinere Anlagen zu errichten. Offensichtlich fanden keine gemeinschaftlichen Begräbnisse in großen Anlagen mehr statt.
Die Megalithkultur scheint sich ab diesem Zeitpunkt von einer kollektiven Gemeinschaft in einzelne kleine Reiche zersplittert zu haben. Nur noch die Anführer dieser Reiche ließen sich in Dolmen bestatten. Zum ersten Mal wurden auch Menhire abgerissen und in anderen Anlagen verbaut.
Dieses Schicksal setzte sich in den folgenden Jahrtausenden fort. Immer wieder wurden einzelne Steine aus den Anlagen entfernt, um in Kirchen, Häusern oder Mauern Verwendung zu finden.
Der katholischen Kirche waren die Menhire, in deren Umgebung die bretonische Bevölkerung lange Zeit noch heidnische Rituale abhielt, ein Dorn im Auge. Sie funktionierte viele von ihnen zu christlichen Heiligtümern um, indem sie ihnen aus Stein gemeißelte Kreuze aufsetzte.
Die Kirche funktionierte einige Menhire um
Obwohl die Megalithbauten in der Bretagne mittlerweile alle unter Denkmalschutz stehen, sind sie immer noch von der Zerstörung bedroht. Doch heutzutage sind es weniger mutwillige Zerstörungen, als der große Besucherandrang durch Touristen aus aller Welt.
Gerade die Steinreihen von Carnac leiden unter der Vielzahl an Menschen, die Tag für Tag die Monumente besichtigen wollen. Der Boden lockert sich durch die Besuchermassen bedrohlich und kann die Steine an vielen Orten nicht mehr halten.
Aus diesem Grund zäunte die französische Regierung das Gelände in den 1990er-Jahren ein. Die Besucherzahl ist seitdem begrenzt, die Steinreihen können nur noch im Rahmen offizieller Führungen besichtigt werden.
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 22.04.2020)
Quelle: WDR