Deutsche Geschichte
Flucht und Vertreibung
14 Millionen Deutsche mussten ab Ende 1944 ihre Heimat verlassen. In schier endlosen Trecks drängten Flüchtlingsströme aus Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien in den Westen. Schlecht ausgerüstet und ohne ausreichende Nahrung zogen sie durchs zerstörte Land.
Die Schrecken der Eroberung
Die geballten Kriegsangriffe der Alliierten richtet sich in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs gegen den Aggressor Deutschland. Der Krieg gegen Nazideutschland wird zunehmend zum Krieg gegen die zivile Bevölkerung.
Hatten die Deutschen bereits die Schrecken der alliierten Bombenangriffe auf die großen Städte des Deutschen Reiches durchlitten, beginnt nun die systematische Einkreisung Deutschlands durch Bodentruppen.
Der Einmarsch der Roten Armee und der westlichen Streitkräfte mündet schließlich in der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945.
Die große Flucht 1944/45
Als Flüchtlinge werden Personen bezeichnet, "die als Folge der Ereignisse in Europa gezwungen sind, ihren Wohnsitz mit Rücksicht auf Gefahr für ihr Leben und Freiheit zu verlassen". Vertriebene hingegen sind "Personen, die mit Gewalt oder sonstigen Zwangsmitteln aus ihrer Heimat entfernt werden, gleichgültig ob dem eine völkerrechtliche Übereinkunft zugrunde liegt oder nicht".
In der Praxis sind die Grenzen zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen verwischt. Viele Bewohner der deutschen Ostgebiete erleben beides, Flucht und Vertreibung.
Als die Rote Armee im Oktober 1944 erstmals ostpreußischen Boden betritt, können die Sowjets noch einmal zurückgeworfen werden. Doch schon in der kurzen Zeit des ersten russischen Einmarschs kommt es zu Übergriffen auf die deutsche Bevölkerung.
Bald beginnen ostpreußische Flüchtlinge, Richtung Westen aufzubrechen. Ihre Berichte von Gräueltaten der russischen Armee führen ab Oktober 1944 zu gewaltigen Flüchtlingstrecks der deutschen Bevölkerung, die sich in den Westen des Deutschen Reiches zurückziehen will.
Die Rote Armee erobert Berlin
Die deutsche Odyssee
Im Oktober 1944 bricht die kalte Jahreszeit herein – in diesem Jahr kommt sie besonders hart und früh. Millionen deutscher Zivilisten fliehen bei Schnee und eisiger Kälte aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern.
Alle Zugverbindungen sind durch die Front unterbrochen. Kraftfahrzeuge und Motorräder besitzt nur die Wehrmacht. Die Menschen fliehen zu Fuß, mit Handwagen oder Pferdefuhrwerken in das westliche Reichsgebiet. Alte Männer und Frauen sitzen, kaum geschützt vor dem eisigen Winter, auf den Wagen. Mütter schieben Kinderwagen mit Kleinkindern viele Kilometer weit.
Es gibt keine medizinische Versorgung, keine Lebensmittel und kaum Trinkwasser. Säuglinge und Kleinkinder sind die ersten Opfer. Sie sterben in der eisigen Kälte an Unterkühlung oder Hunger.
Auch alte, kranke und schwache Menschen haben nur geringe Überlebenschancen. Kleidung und Fluchtausrüstung sind denkbar ungeeignet. Viele Flüchtlinge tragen unhandliche, schwere Koffer, die wenigsten verfügen über einen Rucksack.
Die Menschen fliehen oft unkontrolliert, in wilder Panik und im letzten Moment. Es bleibt ihnen kaum Zeit, an das Nötigste zu denken. Viele Fluchtwillige werden zudem von den Kreis- und Gauleitern der Nazis mit Durchhalteparolen zu lange am Verlassen ihrer Heimat gehindert.
Millionen Menschen wollen auf einen Schlag nach Westdeutschland. Doch sie können, von den Strapazen der Flucht geschwächt, nur wenige Kilometer am Tag zurücklegen. Die russische Front dringt hingegen täglich 50 bis 70 Kilometer tief in das Reichsinnere vor.
Die schnell vorrückende Rote Armee überrollt buchstäblich die Flüchtlingstrecks, die nicht schnell genug ausweichen können. Panzer schießen in die Wagen, russische Tiefflieger beschießen die Flüchtlingskolonnen. Längst wird zwischen feindlichen Soldaten und der Zivilbevölkerung kein Unterschied mehr gemacht.
Wer von den russischen Soldaten eingeholt wird, dem drohen Misshandlung, Vergewaltigung und Ermordung. Schätzungen gehen von etwa 1,4 Millionen vergewaltigten Frauen aus. Aufgegriffene Männer, Jugendliche und Kriegsgefangene werden zu Hunderttausenden als "lebende Reparationszahlung" nach Russland deportiert.
Flucht über das Frische Haff
Als Ostpreußen Ende Januar 1945 durch die sowjetische Armee eingekreist und vom Rest des Deutschen Reiches abgeschnitten wird, versuchen die Flüchtlingstrecks den Russen zu entkommen, indem sie den Weg über das zugefrorene Frische Haff wagen. So wollen sie nach etwa acht Kilometern die Frische Nehrung erreichen, eine schmale Landzunge an der Ostsee.
Von dort aus wollen sie weiter zum rettenden Danziger Hafen gelangen. Doch die Flucht über das zugefrorene Frische Haff erweist sich als fatal. Die Menschen müssen durch 25 Zentimeter hoch stehendes Eiswasser waten, jederzeit droht die Gefahr einer Bruchstelle im Eis.
Zahlreiche Fuhrwerke brechen in das Eis ein, weil sie von sowjetischen Tieffliegern beschossen werden. Die Menschen ertrinken und erfrieren in Scharen.
Flucht in eisiger Kälte
Der Weg übers Meer
Etwa zwei bis drei Millionen Flüchtlingen gelingt die Flucht nach Kiel, Lübeck oder Dänemark. Doch viele der Fluchtwilligen schaffen es nicht auf eines der wenigen Transportschiffe. Aber auch wer es geschafft hat und auf einem der überfüllten Flüchtlingsschiffe Platz gefunden hat, ist keineswegs in Sicherheit.
So wird am 30. Januar 1945 das ehemalige Kreuzfahrtschiff "Wilhelm Gustloff" mit mehr als 10.000 Flüchtlingen und verwundeten Soldaten an Bord von drei sowjetischen Torpedos getroffen und sinkt. Mehr als 9300 Menschen ertrinken und erfrieren im Eiswasser der Ostsee, nur 1239 Passagiere werden gerettet.
Vermeintliche Rettung auf der Wilhelm Gustloff
Systematische Vertreibung
Parallel zu den großen Fluchtwellen beginnt zwischen Winter 1944 und Sommer 1945 die systematische Vertreibung der Deutschen aus den ehemals besetzten Gebieten.
Ob in Polen, im Sudetenland, in den südlichen, nördlichen und westlichen Randgebieten der böhmischen Länder (Tschechoslowakei), in der deutschen "Wolga-Republik" auf russischem Territorium, in Ungarn, Rumänien (Siebenbürgen, Banat), Kroatien (Slawonien), Serbien (Wojwodina), Slowenien und im Baltikum: Die expansionistische Siedlungspolitik unter dem NS-Regime hat zahllose Opfer gefordert.
Jetzt entladen sich die Ressentiments der jahrelang unterdrückten Völker gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung. Hass und Zerstörung sind die Antwort auf die Gewaltverbrechen der Nazis.
Willkürliche Übergriffe, Morde, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Enteignungen, Demütigungen und Repressalien treffen die verhassten Deutschen mit ganzer Härte. Die deutsche Bevölkerung wird erst vereinzelt, später systematisch aus den osteuropäischen Ländern vertrieben.
Systematische Vertreibung
Das Potsdamer Abkommen
Das politisch gewollte Ausmaß der Vertreibungsaktionen wird im August 1945 auf der Konferenz von Potsdam zwischen den Siegermächten bekräftigt. Doch soll eine Regelung der "ethnisch-territorialen Neuordnung" Ostmitteleuropas gefunden werden, die einen "ordnungsgemäßen und humanen Transfer" der Bevölkerung garantiert.
Doch diese vertraglich geregelte Übereinkunft einer geordneten Vertreibung ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Trotz Potsdamer Abkommen herrschen weiterhin chaotische Zustände. Deutsche werden oft von einem Moment auf den anderen ausgewiesen. Sie werden enteignet, ihr Eigentum, Grund und Boden entschädigungslos konfisziert.
Die Vertreibungen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs halten bis lange nach Kriegsende an. Viele der Daheimgebliebenen sind der Rache vor allem von Tschechen und Polen ausgesetzt, Tausende werden ermordet, Hunderttausende werden in Lagern inhaftiert oder müssen oft über Jahre hinweg Zwangsarbeit leisten.
Sie wollten einen "ordnungsgemäßen und humanen Transfer"
Das Chaos der Stunde Null
Weit über zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene suchen nach 1945 eine neue Heimat. Erste Anlaufstellen sind zunächst Verwandte in den alliierten Zonen, wenn es sie denn gibt. Zumeist verläuft die Odyssee der Flüchtenden aber ziel- und orientierungslos. Es herrscht zum Teil erhebliche Desinformation.
Im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit streben die treckenden Flüchtlinge und Vertriebenen in erster Linie Schutz und Sicherheit vor gewaltsamen Übergriffen und Kriegshandlungen seitens der Sieger an. Ein eigentliches Ziel der Reise gibt es für die meisten nicht.
Die gewaltigen Flüchtlingsströme verlaufen quer durch das zerstörte Deutschland und treffen auf Menschen, die durch Bombenangriffe und Kriegshandlungen selbst kaum über das Nötigste zum Leben verfügen. Vielerorts werden die Neuankömmlinge daher misstrauisch beäugt und nicht selten feindselig behandelt.
Es ist das Deutschland der "Stunde Null", und in den kriegszerstörten Ruinenlandschaften mangelt es an Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, Wohnraum, Kleidung, Heizmaterial und Arbeit. Viele Heimatvertriebene müssen jahrelang in Auffanglagern oder Baracken leben, Wohn- und Lebensraum muss erst neu geschaffen werden.
Die Vertriebenen trifft neben den Strapazen der Flucht und dem Verlust der Heimat das Los des sozialen Abstiegs. Sie müssen mit leeren Händen den Neuanfang versuchen. Haus, Hof, Hab und Gut haben sie zurücklassen müssen. Mitgenommene Wertgegenstände sind meist von den Besatzern konfisziert worden, Entschädigungen gibt es nicht.
Quelle: SWR | Stand: 23.04.2020, 11:50 Uhr