Mädchen mit Gepäck auf einem Bahnsteig.

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg

1940 begannen die Bombenangriffe auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Bis Kriegsende wurden rund 2,5 Millionen Kinder aufs Land geschickt, um sie in Sicherheit zu bringen.

Von Sine Maier-Bode

Auf Anordnung des Führers

Der Beginn der Kinderlandverschickung (KLV) war ein vertrauliches Schreiben an alle Reichs- und Parteistellen Deutschlands:

"Auf Anordnung des Führers werden Kinder aus Gebieten, die immer wieder nächtliche Luftalarme haben, zunächst insbesondere aus Hamburg und Berlin, (...) in die übrigen Gebiete des Reiches verschickt. (...) Die Unterbringungsaktion beginnt am Donnerstag, den 3. Oktober 1940."

Schon bald nach Hamburg und Berlin wurden in das Programm auch andere Städte aufgenommen, die ebenfalls von den Bombenangriffen der Alliierten betroffene waren – wie Köln und das Ruhrgebiet.

Ziel der Kinderlandverschickung war allerdings nicht nur der Schutz der Kinder vor den Bomben. Weitab von Elternhaus und kirchlichem Einfluss sollten sie auch im Sinne des Nationalsozialismus umerzogen werden.

Die brennende Spandauer Altstadt nach einem Luftangriff 1944

Ab 1940 sollten die Kinder vor den Luftangriffe in Sicherheit gebracht werden

Ausbildung zu Treue und Folgsamkeit

"Mein größter Wunsch war, wieder in ein K.L.V.-Lager zu fahren...", so beginnt die Tagebucheintragung eines kleinen Mädchens im Juli 1943. Doch die Tagebücher wurden nicht freiwillig geschrieben. Alle Kinder wurden angehalten, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen. Und am Ende ihres Aufenthaltes gaben die Leiter der Hitlerjungen oder der BDM-Mädchen ein Urteil über die Kinder ab, inwieweit sie sich eingefügt, welche besonderen Fähigkeiten sie an den Tag gelegt und ob sie Führungseignung bewiesen hatten.

Zwischen 1940 und 1945 gingen etwa zwei Millionen Kinder in die Kinderlandverschickung, fast eine Million davon in ein KLV-Lager. Während die jüngeren Kinder in Gastfamilien auf dem Lande untergebracht wurden, kamen die zehn- bis 14-jährigen Kinder in Lager.

Oberaufsicht über die Lager hatten jeweils ein Lehrer und ein Mitglied der Hitlerjugend (HJ) beziehungsweise des Bundes Deutscher Mädel (BDM).

Ein Junge mit Hakenkreuzfahne.

Die Hitlerjugend übenahm die Aufsicht

Die einzelnen Lager unterschieden sich erheblich, je nachdem, welche Lehrer in den Lagern tätig waren und inwieweit sie neben der Oberaufsicht der Hitlerjugend ihren Einfluss geltend machen konnten.

In den meisten Lagern herrschte aber das Regiment der Hitlerjugend vor und das betraf außer der Schule alle Lebensbereiche. Das Leben war streng hierarchisch organisiert.

Neben dem Lagerleiter gab es die Stubenleiter, die dafür zu sorgen hatten, dass der Tagesablauf auf den einzelnen Zimmern reibungslos funktionierte. Stubenappell, Gesundheitsappell, Fahnenappell – das gehörte zum Alltagsleben der Kinder in den Lagern der KLV. Hier sollten sie zu folgsamen Nationalsozialisten ausgebildet werden.

Schön war die Zeit...

"Die jungen BDM-Mädel und Hitlerjungen, die waren interessiert, dass es fröhlich sein sollte und wir sollten singen: zum Städtele hinaus", so beschrieb eine Zeitzeugin ihre Abfahrt in die KLV.

Lange Zeit wurde die Kinderlandverschickung als eine Art Erholungsurlaub auf dem Lande verkauft, wo die Kinder endlich genug frische Luft und gutes Essen bekommen sollten. Und für manch ein Kind blieb die Zeit auch später mit schönen Erinnerungen verbunden.

Kinder marschieren hintereinander.

Marschieren gehörte zur Freizeitgestaltung dazu

Die Kinder wurden rund um die Uhr beschäftigt. Es wurde viel marschiert, gesungen und von den Nationalsozialisten ausgewählte Literatur vorgelesen. Andere Bücher durften den Kindern nicht zugeschickt werden.

Wer die Stube leitete, wurde wichtig genommen, beinahe so wie ein Erwachsener. Wer dagegen wenig Sinn für Hierarchien, für Kampf und sportliche Ertüchtigung hatte, hatte meistens eine schwere Zeit.

Heimweh

Aber ob sie die Tage genießen konnten oder nicht: Fast alle Kinder traf früher oder später das Heimweh. Für die meisten der der damals jüngeren Kinder blieb das Heimweh die tiefste Erinnerung: ein unendlich großes Gefühl der Verlassenheit, das dadurch noch verstärkt wurde, dass sie nicht wussten, wie es ihren Liebsten daheim ging.

Manche Kinder mussten weit entfernt von zu Hause erfahren, dass der Vater im Krieg gefallen war, dass die Bombenangriffe auf die Heimatstadt die Wohnung zerstört oder das Leben eines weiteren lieben Menschen geraubt hatten.

Den anderen blieb nur die Hoffnung, dass zu Hause alles in Ordnung war und das Warten auf den nächsten Brief, der die Unruhe und Angst für eine Weile nehmen konnte.

Mädchen stehen in einer Reihe nebeneinander.

Die Kinder lebten fern von ihren Familien

Doch auch die Post wurde für viele Kinder zu einem großen Problem, denn in vielen Lagern wurden die Briefe von den Verantwortlichen gelesen. Es herrschte Zensur. Und der sehnliche Wunsch, endlich nach Hause zu kommen, durfte nicht laut ausgesprochen werden.

Wie schwer vielen Kindern schon der Abschied von zu Hause gefallen war, zeigt die Geschichte eines Mädchens, von dem Hilke Lorenz in ihrem Buch "Kriegskinder" erzählt.

Jahrelang hatte das Mädchen bei jedem Bombenangriff, in jeder glücklichen und traurigen Lebenslage ihre Lieblingspuppe mitgenommen. Die Puppe, der sie alles erzählen konnte. Doch als sie in die Kinderlandverschickung musste, ließ sie sie das erste Mal alleine daheim – aus Angst, der Puppe könne etwas zustoßen.

Verwandtschaft auf dem Lande

Die KLV war als freiwillige Maßnahme geplant. Das Volk sollte nicht beunruhigt werden, sondern bei der Stange bleiben. Da waren erzwungene Evakuierungsmaßnahmen kein gutes Mittel.

Doch die meisten Eltern wollten ihre Kinder nicht freiwillig weit weg geben, irgendwohin, wo sie niemanden kannten und wo das strenge Reglement der Hitlerjugend vorherrschte. Doch genau das war der Plan der Nationalsozialisten, die eine langfristige Umerziehung der Jugend im Auge hatten.

Nachdem zu wenig Eltern auf die freundliche Werbung der ersten Jahre reagiert hatten, versuchte man ganze Schulklassen zu verschicken. Doch auch hier wehrten sich viele Eltern.

Die Werbemaßnahmen für die KLV wurden daher immer rigoroser, die Wortwahl drastischer. Die Eltern könnten am Tode ihres Kindes schuldig werden, wenn sie nicht die Hilfe der KLV in Anspruch nähmen, vermittelte man ihnen.

Etwa fünf Millionen Kinder wurden während der Kriegsjahre verschickt, drei Millionen davon kamen allerdings nicht in die Kinderlandverschickung. Ihre Eltern brachten sie zu Tanten, Großeltern, Großtanten oder anderen Verwandten auf dem Land, um sie auf diese Art und Weise vor den Bomben, vor dem Regiment der Hitlerjugend und vor der Einsamkeit zu schützen.

(Erstveröffentlichung: 2004. Letzte Aktualisierung: 23.03.2020)

Quelle: WDR

Darstellung: