Depressionen
Interview: Depressionen bei Männern
Männer erkennen oft als Letzte, dass sie an einer Depression erkrankt sind, sagt Prof. Dr. Anna Maria Möller-Leimkühler. Die Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München erklärt im Interview, warum das so ist, woran man die Erkrankung dennoch erkennen kann und sie fordert, das Thema Depression bei Männern endlich aus der Tabuzone herauszuholen.
Von Andrea Wieland
Planet Wissen: Depression als Frauenkrankheit – das Gerücht hält sich hartnäckig. Depression und Männer hingegen ist weniger ein Thema. Trotzdem gibt es sie. Wie oft kommt sie vor und wie äußert sie sich?
Anna Maria Möller-Leimkühler: Eine Depression wird bei Männern im Vergleich zu Frauen etwa nur halb so häufig diagnostiziert. Das bedeutet aber nicht, dass Männer ein geringeres Risiko hätten, an einer Depression zu erkranken. Wir haben es hier mit einer systematischen Unterdiagnostizierung zu tun.
Dafür gibt es verschiedene Gründe: Geschlechterstereotype, die sich auch in Diagnostiziergewohnheiten und -instrumenten widerspiegeln, mangelndes Hilfesuchverhalten von Männern und die stärkere soziale Stigmatisierung von Depression bei Männern.
So hat zum Beispiel die Vorstellung von Depression als typischer Frauenkrankheit mit überkommenen, aber immer noch aktuellen Geschlechterstereotypen zu tun, wonach Frauen als das körperlich schwache, emotionale und psychisch anfälligere Geschlecht gelten, Männer dagegen als die Verkörperung von körperlicher und mentaler Stärke.
Insofern passen Depression und Männlichkeit zunächst mal nicht zusammen, die Depression stellt eine Bedrohung der männlichen Identität dar. Nicht erkannte Depressionen sind eine der Hauptursachen für die dreimal höhere Suizidrate bei Männern.
Unterm Strich sind Frauen und Männer insgesamt etwa gleich häufig von psychischen Störungen betroffen. Gerade bei Depressionen ist es wichtig, den Einfluss von gesellschaftlichen Geschlechtsrollenerwartungen und Vorstellungen von "richtiger" Maskulinität zu berücksichtigen.
Dazu gehören nicht nur unterschiedliche psychosoziale Risikofaktoren bei Männern und Frauen, sondern auch die Art und Weise, wie eine Depression von den Betroffenen wahrgenommen und nach außen kommuniziert wird.
Zum Thema hab ich den folgenden Satz gelesen: "Wenn Männer depressiv werden, sind sie selbst oft die Letzten, die das bemerken." Ist das wirklich so? Und wenn ja, macht es das nicht unglaublich schwierig, die Erkrankung überhaupt zu erkennen?
Ja, das ist richtig. Weil Männer wenig Zugang zu ihren Emotionen haben und sich in der Regel nicht für psychische Gesundheit beziehungsweise Gesundheitswissen interessieren, stellen sie höchstens fest, dass sie dauerhaft nicht gut drauf sind, neben der Spur laufen und innerlich gespannt sind.
Nach dem Prinzip "Außen Action, innen Konflikt" versuchen Männer typischerweise, diese Spannungen auf der Verhaltensebene auszuagieren und damit loszuwerden. Das funktioniert aber auf Dauer nicht. Meist sind es die engen Bezugspersonen, denen diese Verhaltensänderungen zuerst auffallen.
Bei der üblichen Depressionsdiagnostik, die überwiegend nur die "weiblichen" Symptome wie Traurigkeit und Antriebslosigkeit erfasst, fallen viele Männer durch das diagnostische Raster, sodass ihre Depression, die sich eben anders äußern kann als (nur) mit den klassischen Symptomen, nicht erkannt wird.
Viele Männer fallen durch das Raster der üblichen Depressionsdiagnostik
Was wären typische Anzeichen einer Depression bei Männern?
Depressive Zustände, die als solche nicht erkannt werden oder aus Scham nicht zugegeben werden können, müssen unbewusst abgewehrt werden. Und zwar durch Verhaltensweisen, die mit den gängigen Männlichkeitsvorstellungen einhergehen und so gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass möglicherweise eine Depression dahintersteckt.
Das ist eine Art von Selbstschutz, zum Beispiel durch verstärkte Aggressivität, Reizbarkeit, Wutausbrüche, vermehrten Alkohol- oder Drogenkonsum als Mittel der Entspannung, durch exzessives sich Stürzen in Arbeit, Sport, Sex, Internet etc. oder riskantes Verhalten beim Autofahren oder beim Sport.
Auf der anderen Seite aber auch sozialer Rückzug, Kontaktvermeidung, erhöhte Kränkbarkeit und Schweigen. Es steckt auch viel Scham dahinter. Die Fassade oder das Funktionieren wird lange aufrechterhalten, um nach außen die männliche Identität zu wahren.
Für Angehörige und Freunde ist es schwierig, diese Verhaltensänderungen nicht als Bösartigkeit oder Egoismus, sondern als Ausdruck einer beginnenden Depression zu verstehen.
Diese abweichenden Symptome einer Depression müssen auch bei der ärztlichen Diagnostik berücksichtigt werden. Dazu gibt es ein von mir entwickeltes geschlechtersensitives Screening, das in umfangreichen Studien evaluiert wurde. Damit können Depressionen bei Männern besser erkannt werden, es kann auch als Selbsttest verwendet werden.
Wie kommt die Erkrankung schließlich ans Licht – was ist Ihre Erfahrung?
Bis der Betroffene merkt, dass er allein nicht aus der Depression herauskommt, kann es ein sehr leidvoller, mühsamer und langer Weg sein. Denn der Schritt, bei psychischen Problemen rechtzeitig professionelle Hilfe zu suchen, fällt Männern besonders schwer, und zwar umso schwerer, je stärker sie sich an traditionellen Männlichkeitsnormen orientieren.
Die Partnerin spielt hier eine wichtige Rolle, viele sagen: Meine Frau hat mich zum Arzt geschickt. Über Burnout und die Behandlung körperlicher Beschwerden, die fast immer mit einer Depression entstehen, lassen sich Brücken bauen.
Das bedeutet aber auch, dass Hausärzte ganz aktiv nach dahinterliegenden Stressquellen, psychosozialen Risikofaktoren und Stressverarbeitungsstrategien fragen müssen und nicht nur ein Rezept verschreiben oder empfehlen, doch mal Urlaub zu machen. Der hilft bei einer Depression garantiert nicht.
Sie fordern eine neue Herangehensweise an das Thema Depressionen bei Männern. Was sollte sich Ihrer Meinung nach ändern?
Ein Umdenken wäre auf unterschiedlichen Ebenen wichtig. Gesellschaftlich, und hier spielen die Medien eine wichtige Rolle, müssen wir daran arbeiten, das Thema Depression bei Männern aus der Tabuzone herauszuholen und zu entstigmatisieren.
Denn eine Depression ist weder eine Erkältung noch persönliches Versagen, sondern eine potenziell tödliche Erkrankung, die häufiger ist als Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und die mit einem hohen Suizidrisiko einhergeht.
Auch im betrieblichen Gesundheitsmanagement ließe sich eine ganze Menge tun, indem Männer zielgruppengerecht besser angesprochen würden und das Thema psychische Gesundheit systematisch in die Angebote (auch in Kombination mit Sportangeboten) mit einbezogen würde.
Schließlich müsste die Geschlechterperspektive in der Medizin ("Gendermedizin") stärker in der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung berücksichtigt werden. Ein wichtiger Punkt, wenn es um individualisierte Medizin gehen soll.
Sollten auch die Männer selbst lernen, etwas besser hinzuschauen?
Unbedingt. Mehr Sensibilität und Eigenverantwortung für die eigene körperliche und psychische Gesundheit wäre wünschenswert. Das muss aber schon ganz früh in der Kindheit beginnen, wo Jungen darin bestärkt werden sollten, sich nicht nur auszutoben und mutig zu sein, sondern auch ihre Gefühle zu zeigen, für die sie sich vielleicht schämen – weil sie ja kein Mädchen sein wollen.
Männer erleben in der Regel eine Sozialisation zur emotionalen Kontrolle, die ihnen zur zweiten Natur wird und mit der sie sich selbst im Weg stehen. Mann muss nicht gleich zum Weichei werden, wenn er versucht, besser auf körperliche und psychische Warnsignale zu achten.
Aber immer nur machen, ohne zu reden, ohne auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen und immer nur zu funktionieren, ist auch keine Lösung und macht auf Dauer krank.
Fehlt dafür der Zugang zu den eigenen Gefühlen, der den Männern oft nachgesagt wird?
Ja. Da gibt es zunächst rein hirnanatomische Gründe: Das männliche Gehirn ist in seinen Hälften weniger gut verschaltet als das weibliche Gehirn und arbeitet vergleichsweise asymmetrisch.
Das bedeutet, dass bei Männern tendenziell die linke Hirnhälfte aktiver ist, die zuständig ist für logisches und analytisches Denken und weniger mit der rechten Hirnhälfte zusammenarbeitet, wo Emotionen und Intuition verortet sind.
Die Folge ist, dass Männer aufgrund dieser Hirnarchitektur einen schlechteren Draht zu ihren Gefühlen haben und diese nicht so gut identifizieren und verbalisieren können wie Frauen.
Hinzu kommt der Einfluss der Sozialisation, die ich gerade schon erwähnt habe, dass Jungen eher lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren. Emotionale Kontrolle gilt im Männlichkeitsstereotyp als Ausweis von Stärke und Überlegenheit.
Folgende Situation: Der Chef drängt auf den Abschluss des Projekts, zu Hause zahnt das Baby und die Beziehung steckt in der Krise. Das alles stresst den Mann. Wie können Männer besser mit psychischen Belastungen umgehen?
Bloß nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern darauf achten, dass die eigenen Ressourcen auf Dauer nicht überstrapaziert werden. In kurzen Stressphasen werden Ressourcen sogar aktiviert, aber sie müssen kurz bleiben. Das bedeutet, zu unterscheiden, welche Stressoren man verändern kann und welche nicht.
Beim Projektabschluss könnte Mann zum Beispiel delegieren oder die Unterstützung von Kollegen in Anspruch nehmen, das Zahnen des Babys lässt sich nicht vermeiden – da muss man einfach durch, und in der Beziehungskrise helfen Reden, Kompromissbereitschaft und Verständnis für die Gefühle des anderen.
Also mit sozialer Kompetenz (hier könnten Männer tatsächlich von Frauen lernen) und stoischer Duldsamkeit lässt sich schon einiges lösen.
Gibt es Möglichkeiten präventiv etwas zu tun, so dass es erst gar nicht zu extrem belastenden Situationen kommt?
Dazu drei Stichworte: Lebensstil, Aufbau von Schutzfaktoren und Psychohygiene.
Zahlreiche Studien bestätigen, dass der Lebensstil entscheidend zur körperlichen und psychischen Gesundheit beiträgt. Dazu gehört bekanntermaßen ausreichend Bewegung und Entspannung, eine gesunde Ernährung und ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus.
Es ist nachgewiesen, dass zum Beispiel gemäßigte, aber regelmäßige sportliche Aktivitäten (Ausdauer und Kraftsport) Stresshormone abbauen, die Stimmung aufhellen und bei leichten bis mittelschweren Depressionen so gut wirken können wie ein Antidepressivum.
In beruflich stressigen Zeiten sollte man auf regelmäßige Pausen und Entspannungsphasen achten, denn Körper und Psyche sind nicht gemacht für dauerhafte Extremleistungen.
Schutzfaktoren sind vor allem eine stabile Partnerschaft (insbesondere für Männer) und vertrauensvolle Freundschaften, die gemeinsame Interessen und gegenseitige Hilfe ermöglichen.
Das führt nicht nur zu besserer Gesundheit, sondern auch zu einem längeren Leben. Eine ausgeprägte digitale Vernetzung kann keine reale Kommunikation ersetzen. Belegt ist, dass Einsamkeit und soziale Isolation über längere Zeit zu Depressionen und schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen führen können.
Und, was die Psychohygiene betrifft: Männer sollten mehr Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen entwickeln, jenseits von rigiden Männlichkeitsvorstellungen.
Das heißt, eigene Schwächen und Grenzen anerkennen, ohne sich in der Komfortzone anspruchslos einzurichten. Hilfreich kann es sein, sich von den drei K´s zu verabschieden: "Konkurrenz, Karriere, Kollaps" und diese durch die drei W´s zu ersetzen: "Wir-Gefühl, Work-Life-Balance und Wohlbefinden."
Kurz gesagt: keine chronische Überforderung und bessere Selbstfürsorge.
Quelle: SWR | Stand: 19.09.2022, 17:00 Uhr