Bauhaus
Weißenhof-Siedlung
Juli 1927: In Stuttgart wird auf dem Killesberg eine ungewöhnliche Siedlung der Öffentlichkeit präsentiert – der Weißenhof. Er steht sowohl für die Abkehr von vorindustriell geprägten Wohnformen als auch für neue und rationale Baumethoden für den modernen Großstadtmenschen.
Von Gabriele Trost und Tobias Aufmkolk
Modernes Bauen und Wohnen
Der Weißenhof – derartiges hat man anno 1927 in Stuttgart noch nie zu sehen bekommen. Die Stuttgarter wollen ihren Augen nicht mehr trauen, viele sind entsetzt. Unter Federführung von Ludwig Mies van der Rohe, der 1930 auch die Leitung des Bauhaus in Dessau übernimmt, hat der Werkbund die Ausstellung "Die Wohnung" veranstaltet und es ist eine Siedlung entstanden, die sich völlig von herkömmlichen Seh- und Wohngewohnheiten absetzt.
17 Architekten aus Deutschland, Holland, Österreich und der Schweiz haben in einer Bauzeit von nur 21 Wochen eines der bedeutendsten Zeugnisse der modernen Architektur geschaffen, unter ihnen so bekannte Größen wie Le Corbusier, Peter Behrens, die Brüder Max und Bruno Taut sowie die beiden Bauhaus-Architekten Ludwig Hilberseimer und Walter Gropius.
Die Architektur ist schmucklos, ohne jegliche Verzierungskunst, reduziert auf die Form. Das Haus soll kein Repräsentationsobjekt, sondern ein Gebrauchsobjekt sein. In den Augen der Architekten erlauben die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Großteils der Bevölkerung kein verschwenderisches Bauen mehr.
Eine neue Konzeption von Siedlungen muss her, die Wohnungsanlagen billiger macht, Hauswirtschaft vereinfacht und das Wohnen verbessert. Dabei soll mit möglichst wenig Mitteln eine möglichst große Wirkung erzielt werden.
Die Weißenhof-Siedlung ist ein Prototyp dieser neuen Philosophie. Sie umfasst 21 Häuser mit 63 Wohnungen, die – obwohl im Inneren durchaus unterschiedlich – nach außen hin ähnlich formstreng gestaltet sind. Die Architekten sind nicht nur für die äußere Gestaltung der Häuser zuständig, sondern zeigen sich auch zum ersten Mal für die Inneneinrichtung verantwortlich.
Zudem wird beim Bau der gesamten Siedlung mit neuen Baumaterialien und -methoden experimentiert, zum Beispiel der Leichtbeton-, Trockenbau- und Skelettbauweise. Finanziert wird das ganze Projekt als Teil des kommunalen Wohnungsbauprogramms der Stadt Stuttgart.
Stararchitekt Le Corbusier entwarf ein Haus für die Siedlung
Zwischen Begeisterung und Verachtung
Von Anfang scheiden sich an der Weißenhof-Siedlung die Geister. Obwohl der Rat der Stadt Stuttgart den Bau mit einer großen Mehrheit abgesegnet hat, gibt es zahlreiche Kritiker der Ausstellung.
Bürgerliche Politiker, das Bauhandwerk und konservative Architekten bekämpfen diese neue Art des Bauens. Die Gemüter erhitzen sich vor allem an den Flachdächern, und an dieser Dächerfrage entzündet sich die Diskussion um den "richtigen" Baustil.
Andere schmähen die Weißenhof-Siedlung als "Araber-Dorf", und im Amtsblatt der Stadt Stuttgart ist zu lesen, "dass die Weißenhof-Siedlung, für welche der Deutsche Werkbund verantwortlich zeichnet, der deutlichste Beweis für den Niedergang der deutschen Baugesinnung während der Nachkriegszeit ist. Es besteht ein öffentliches Interesse aller Deutschgesinnten, solche weltbürgerlichen Versuche zu verhindern."
Andere rühmen Stuttgart als die modernste Stadt in Deutschland. Die Tagespresse ist vorwiegend positiv eingestellt, auch die sozialdemokratische Zeitung "Vorwärts" jubelt: "Das Haus als Wohnmaschine, befreit vom Ballast sentimentaler Ornamente, ein lebendiges, atmendes Nutzwesen; schreckhaft noch anzuschauen für den Banausen und ewigen Spießbürger, der alles so haben will, wie es bei Großväterchen war."
Auch das Besucherinteresse ist enorm: Zwischen Juli und Oktober 1927 kommen über 500.000 Besucher, um sich die neue Architektur anzuschauen.
Nichtsdestotrotz entsteht 1933 in Stuttgart – quasi als Gegenentwurf und ganz in der Nähe der Weißenhof-Siedlung – die Kochenhof-Siedlung. Sie wird in traditioneller Holzbauweise errichtet und mit Walmdächern ausgestattet, die als "typisch deutsch" gelten. Vorbild hierfür ist Goethes Gartenhaus in Weimar. Über einen regionalen Bekanntheitsgrad kommt die Kochenhof-Siedlung – ganz im Gegensatz zum berühmten Nachbarn – aber nie hinaus.
Für die 1920er-Jahre eine gewöhnungsbedürftige Bauweise
Zerstört und verschandelt
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 sieht sich die Weißenhof-Siedlung zunehmender Kritik ausgesetzt. Die meisten Architekten sind emigriert, die Befürworter der modernen Architektur sind verstummt.
1938 stimmt die Stadt Stuttgart dem Verkauf der Siedlung an das Deutsche Reich zu, doch der geplante Abriss der Häuser scheitert am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Da während des Krieges auf dem Gelände ein Flugabwehr-Geschütz stationiert ist, wird die Siedlung 1944 Ziel von Bombardierungen durch die Alliierten. Zehn von 21 Häusern werden dabei komplett zerstört.
Nach dem Krieg ist kein Geld für eine Renovierung der noch bestehenden Wohneinheiten vorhanden, geschweige denn für einen vollständigen Erhalt der alten Strukturen. Baulücken werden durch Mehrfamilienhäuser konventionellen Baustils aufgefüllt, die noch erhaltenen Häuser der Weißenhof-Siedlung teilweise umgebaut und mit neuen Dächern versehen.
Ein langer Weg zur Restaurierung
1958 stellt die Stadt Stuttgart die übrig gebliebenen Häuser unter Denkmalschutz, zehn Jahre später erhalten sie anlässlich einer "Bauhaus-Ausstellung" einen neuen Anstrich.
1977 wird der Verein "Freunde der Weißenhof-Siedlung e.V." gegründet. Von 1981 bis 1987 saniert die Stadt die elf Häuser und versetzt sie in ihren ursprünglichen Zustand. Mittlerweile kann die Weißenhof-Siedlung wieder eine stattliche Zahl an Besuchern verzeichnen. Die wegweisende Architektur der 1920er-Jahre ruft nach wie vor ein großes Interesse in aller Welt hervor.
Das Le Corbusier-Haus ist immer noch erhalten
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 09.06.2021)
Quelle: SWR/WDR