Das Baltikum: Lettland, Estland und Litauen
Planet Wissen. 12.03.2019. 00:45 Min.. UT. Verfügbar bis 12.03.2029. WDR.
Baltische Staaten
Estland
Im Estland leben gerade einmal 1,3 Millionen Menschen. Aber die haben ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein: Die Esten genießen es, ihre Unabhängigkeit nach Jahrhunderten der Unterdrückung leben zu können.
Von Christine Buth
Mehr finnisch als baltisch
Formal gehört Estland zu den baltischen Staaten. Kulturell fühlen sich die meisten Esten jedoch den Finnen näher als den Letten und Litauern. Die estnische Hauptstadt Tallinn und die finnische Hauptstadt Helsinki liegen nur 85 Kilometer auseinander – zu überwinden in 90 Minuten mit der Schnellfähre.
Esten und Finnen haben die gleichen Vorfahren: die finno-ugrischen Stämme, die aus dem Ural einwanderten. Auch ihre Sprachen entstammen der gleichen Familie. Es sind ostseefinnische Sprachen: fast ohne harte Laute, dafür mit ungeheuer vielen Vokalen. "Jäääär" zum Beispiel bedeutet soviel wie "Kante des Eises" und "Töö-öö" nennt der Este eine Nacht, in der er gearbeitet hat.
Die Zahl der Vokale in der estnischen Sprache wird eigentlich nur von der Zahl der grammatikalischen Fälle übertroffen: Während die deutsche Sprache mit Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ auskommt, unterscheidet das Estnische 14 Fälle, das Finnische sogar 15.
Immer schon der Mittelpunkt: Tallinn
Wasser spielt eine große Rolle
Die kulturelle Verwandtschaft zwischen Estland und Finnland geht so weit, dass die beiden Länder sogar die Melodie ihrer Nationalhymne teilen. Allerdings preisen Esten und Finnen im Text jeweils ihr eigenes Land als schönstes.
Die Sowjetunion verbot in den baltischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg das Singen von nationalen Liedern, darunter fiel natürlich auch die Nationalhymne.
Für die Esten war es damals ein Glück, die Melodie der Hymne mit den finnischen Nachbarn zu teilen, denn die war jeden Abend zum Sendeschluss im finnischen Radio zu hören und auch in Estland zu empfangen.
Nachdem Estland 1991 unabhängig wurde, gab es Überlegungen, die Hymne mit einer neuen, ganz eigenen Melodie zu versehen. Sie wurden jedoch nicht weiter verfolgt.
Auch landschaftlich unterscheidet sich Estland von Lettland und Litauen, den anderen baltischen Staaten. Wasser spielt eine große Rolle: Fast zehn Prozent des estnischen Staatsgebietes besteht aus Inseln – 1520 winzige Eilande, die vor der Küste liegen und heute oft Naturschutzgebiete sind.
Außerdem gibt es mehr als 1400 Seen und mehr als 7000 Flüsse, die das Land durchziehen. "Festland" kann man dazu an vielen Stellen übrigens nicht sagen: Ein Fünftel des estnischen Staatsgebietes besteht aus Sümpfen.
Saaremaa ist die größte Insel Estlands
"Sprechen Sie Deutsch?"
Die Esten sind Patrioten. Seit sie endlich unabhängig sind, wird jeden Morgen auf dem Domberg über Tallinn am Parlament die Landesflagge gehisst. Über viele Jahrhunderte wurde die estnische Bevölkerung jedoch von fremden Herren regiert.
Im Mittelalter waren es Deutsche, die in Estland herrschten: Reval – das heutige Tallinn – war lange Zeit eine der wichtigsten Handelsstädte der Hanse, des mächtigen Verbundes deutscher Kaufleute.
700 Jahre lang hielt sich der Einfluss des deutschbaltischen Adels, und noch bis 1885 war Deutsch die Unterrichts- und Behördensprache in Estland.
Neben den Deutschen herrschten auch Schweden, Dänen, Polen und Russen in Estland. Aber Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Esten, ein starkes Nationalgefühl zu entwickeln. Sie lehnten die Privilegierung der deutschsprachigen Oberschicht genauso ab wie die Russifizierungspolitik des Zarenreiches, welches das Russische auch in Estland als Amts- und Unterrichtssprache einführte.
Während des Ersten Weltkrieges wurden die russischen Truppen aus dem gesamten Baltikum verdrängt, und Estland erreichte am 24. Februar 1918 das erste Mal die Unabhängigkeit – allerdings nicht für sehr lange. Heute wird dennoch jedes Jahr zu diesem Datum der estnische Nationalfeiertag begangen.
Estland und der Zweite Weltkrieg
Während des Zweiten Weltkrieges verlor Estland ein Viertel seiner Bevölkerung. Hitler ließ bis 1940 die Deutschbalten "heim ins Reich" holen. Sie wurden in den neu geschaffenen Reichsgau Wartheland umgesiedelt, der vorher zu Polen gehört hatte.
Im Juni 1940 besetzte dann die Sowjetunion das Land. Estnische Intellektuelle wurden verfolgt und deportiert. 1941 kamen die Deutschen zurück und errichteten auch in Estland Konzentrationslager. 1944 fiel das Land zurück an die Rote Armee, die erneut die Elite deportieren ließ.
100.000 tatsächlich oder vermeintlich anti-sowjetische Einwohner Estlands wurden nach Sibirien verschleppt, genauso viele mussten auswandern. Dafür wurden fast 200.000 russische Arbeiter angesiedelt.
Die Sowjetunion ergriff gezielte Maßnahmen, um das nationale Bewusstsein der Esten zu zerstören: Sie schwächte die estnische Sprache, vernichtete Bücher und verbot das Singen von nationalen Liedern.
Die Jahrzehnte unter sowjetischer Besatzung waren für viele Esten eine traumatische Zeit, die sie bis heute weder vergessen noch vergeben haben.
Friedlicher Protest und rasante Entwicklung
"Mein Vaterland, mein Glück, meine Freude", so lautet die erste Zeile der Nationalhymne der Esten, die in der Sowjetunion lange verboten war. Im Sommer 1988 wurde sie wieder gesungen, von mehr als 300.000 Menschen auf dem Sängerfeld in der Hauptstadt Tallinn.
Der friedliche Protest war einer der Höhepunkte der "Singenden Revolution", mit der die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit zurückerlangten.
Alle fünf Jahre findet das große Sängerfest in Tallinn statt
1991 wurde Estland endlich eigenständig. In Tallinn wurde daraufhin sofort der Motor für eine rasante Entwicklung angeworfen: Die junge Generation wollte Freiheit und Selbständigkeit und machte aus Estland in wenigen Jahren einen modernen europäischen Staat.
Am 1. Mai 2004 wurde Estland in die Europäische Union (EU) aufgenommen und neben Slowenien zum "Musterschüler" unter den neuen Mitgliedsstaaten: politisch und wirtschaftlich stabil.
Naturverbunden und traditionsbewusst
"Wie schön bist du…", ist die zweite Zeile der estnischen Nationalhymne. Estland ist zwar kein Land der Superlative: Finnland hat mehr Seen, Schweden mehr Inseln, Russland mehr Bären. Aber Estland hat von allem etwas.
Bisher genießen vor allem Individualtouristen und die Esten selbst die ursprüngliche verträumte Schönheit außerhalb der Städte. Denn obwohl drei Viertel der Bevölkerung in den Städten lebt, sind die Esten sehr naturverbunden.
Im Nationalbewusstsein spielen die Schönheiten der Landschaft eine große Rolle: die Wälder, in denen noch Luchse und Wölfe heimisch sind, die menschenleeren Strände und das Meer, die "Weißen Nächte" im Sommer, in denen es kaum dunkel wird, und die "Weiße Weihnacht" im Winter, wenn die Ostsee zufriert.
Estland ist in wenigen Jahren zu einem eigenständigen modernen Staat geworden, jedoch ohne alte Traditionen aufzugeben. Volkslieder, Trachten, Tänze und Legenden haben während der langen Zeit vor der Unabhängigkeit das Nationalbewusstsein des kleinen Volkes erhalten. Auch heute haben sie noch einen festen Platz im Alltagsleben der Esten.
Junge Frauen in estnischer Trachtenkleidung
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 27.05.2020)
Quelle: WDR