Die schöne Riesin Neringa
Geologisch gesehen entstand die Landzunge der Kurischen Nehrung nach der jüngsten Eiszeit aus einer Inselkette von Endmoränenhügeln, an die der Westwind über Jahrhunderte stetig Sand wehte. Doch natürlich hält die litauische Sagenwelt eine ganz andere Version über die Entstehung der Kurischen Nehrung bereit: die Geschichte einer Riesin mit schönem blonden Haar.
Einer Legende nach lebte einst die schöne Riesin Neringa in der Gegend des Kurischen Haffs. Sie war sehr beliebt, denn sie trieb die Fische in die Netze der Fischer und zog in Seenot geratene Boote wieder an Land. Beeindruckt von ihrer Güte und auch von ihren goldblonden Haaren warb so mancher Freier um sie. Doch nur einer konnte sie für sich gewinnen: Naglis, der Herr der Burg Ventė.
Leider war der Wellengott Bangputys mit der geplanten Hochzeit nicht einverstanden – er wütete und tobte, sodass sich riesige Wellen auf der Ostsee auftürmten.
Neringa handelte rasch. Sie sammelte Sand in ihrer Schürze und schüttete ihn vor der Küste zu einem Schutzwall auf. So konnten sie und Naglis ausgelassen ihre Hochzeit feiern. Und die Fischer können seitdem ungestört im Haff fischen – geschützt von der Landzunge, die den Namen der schönen Riesin trägt.
Skulptur der Riesin Neringa aus Holz
Der Tourismus boomt
Noch immer werfen viele Fischer im Haff ihre Netze aus. Doch inzwischen ist der Tourismus für die Bevölkerung zu einer wesentlich wichtigeren Einnahmequelle geworden. Angelockt werden die Urlauber von kilometerlangen Sandstränden, hohen Dünen, dunklen Kiefernwäldern und den vielen bunt bemalten Holzhäusern mit ihren verwilderten Blumengärten.
Schon der Gelehrte Wilhelm von Humboldt schrieb im Jahr 1809 von einer Reise an seine Frau Caroline: "Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebenso gut als Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll."
Doch so beliebt die Nehrung auch bei den Fremden ist – die Bewohner hatten hier lange Zeit mit der Natur zu kämpfen.
Die Holzhäuschen-Idylle lockt viele Touristen an
Wettstreit zwischen Mensch und Natur
Vor rund 500 Jahren holzten die an der Nehrung lebenden Menschen die Kiefernwälder weiträumig ab. Die Natur rächte sich: Die Dünen begannen zu wandern und begruben insgesamt 14 Dörfer unter sich. Manche Ortschaften zogen sogar zweimal um und wurden doch wieder von den Sandmassen eingeholt.
Erst als im 19. Jahrhundert wieder Kiefern gepflanzt wurden und sich ein Waldstreifen bilden konnte, beruhigten sich die Dünen. Am Ufer des Meeres wurden außerdem Vordünen angelegt. Sie sollten verhindern, dass der übers Meer gewehte Sand die Wanderdünen noch weiter wachsen lässt. Diese Rechnung ist aufgegangen.
Doch inzwischen gibt es neue Sorgen: Die berühmte Große Düne in der Nähe von Nida schrumpft. Noch ist sie mit über 50 Metern Höhe eine der größten Europas, doch in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sie etwa 25 Meter eingebüßt.
Nun sind die Höfe und Häuser zwar sicher, aber die Existenz der "nördlichen Sahara" ist bedroht. Die wüstenartige Landschaft aus feinem Sand könnte es eines Tages hier nicht mehr geben.
Die Große Düne im Abendlicht
Nationalpark und Weltkulturerbe der Unesco
Um die einzigartige Naturlandschaft auf der Landzunge zu schützen, wurde sie in den 1990er-Jahren zum Nationalpark erklärt. Wer hier Urlaub macht, sollte die befestigten Wege durch die Dünenlandschaft nicht verlassen, nicht wild campen und offenes Feuer vermeiden.
Neben der Natur gilt auch die Kulturlandschaft der Kurischen Nehrung seit dem Jahr 2000 als besonders schützenswert. Seitdem gehört die Region zum Weltkulturerbe der Unesco.
Nur ein Umstand trübt die Idylle: Die Kurische Nehrung ist geteilt. 52 Kilometer gehören zu Litauen, 46 zur russischen Provinz Kaliningrad. Wer diese Grenze passieren will, braucht ein Visum.
Nur Punkte am Horizont: Wanderer in den Dünen
Nida – Touristisches Zentrum der Nehrung
Die meisten westlichen Touristen überqueren diese Grenze nicht. Sie beschränken sich auf den litauischen Teil – und insbesondere auf das pittoreske Örtchen Nida (deutsch: Nidden).
Hier verbrachte auch Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann drei Jahre lang hintereinander mit seiner Familie den Urlaub. Von seinem Arbeitszimmer aus konnte er auf das Kurische Haff blicken und nannte die Aussicht seinen "Italienblick".
Sicher wäre er noch häufiger in das nach seinen Vorstellungen gebaute Sommerhaus zurückgekehrt. Doch nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten im Jahr 1933 war das nicht mehr möglich. Heute ist in dem hölzernen, reetgedeckten Haus ein kleines Kulturzentrum eingerichtet.
Das einstige Ferienhaus von Thomas Mann
Juodkrantė – Zentrum des Bernsteinhandels
Ein wenig im Schatten von Nida steht der zweitgrößte Ort im litauischen Teil der Nehrung. Dabei ist Juodkrantė (deutsch: Schwarzort) legendär: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden hier große Mengen an Bernstein abgebaut.
Auch die ältesten bekannten Schnitzereien aus Bernstein stammen von hier. Über 400 Schmuckstücke wurden gefunden – Amulette, Knöpfe und Figuren – etwa 4000 Jahre alt.
Betrachten kann man die Schmuckstücke in Juodkrantė jedoch nicht. Der Großteil der zunächst in Königsberg ausgestellten Sammlung ging in den Kriegswirren verloren, die verbliebenen Stücke befinden sich heute in Göttingen.
Ein kleiner Trost für Touristen ist der sogenannte Hexenberg in Juodkrantė. Hier stehen viele geschnitzte Holzskulpturen aus der litauischen Sagen- und Götterwelt. Unter den rund 80 bizarren Gestalten fehlt auch die Riesin Neringa nicht.
Schmuck aus Bernstein besitzt angeblich Heilkräfte
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 27.05.2020)
Quelle: WDR