Auschwitz im Erleben eines 15-Jährigen
Aus der Sicht eines sehr jungen Industriearbeiters erzählt Imre Kertész im "Roman eines Schicksallosen" einen Leidensweg von Budapest über Auschwitz und Birkenau zurück nach Ungarn. Kertész selbst wurde im Alter von 15 Jahren erst nach Auschwitz und später nach Buchenwald deportiert.
Der Roman, mit dem sich Kertész zwischen 1960 und 1973 befasste, wurde zunächst als anstößig erlebt, weil er angeblich die Opfer des nationalsozialistischen Terrors verhöhne. Erst fand Kertész keinen Verlag, dann wurde er totgeschwiegen. Die Kollegen kritisierten, dass er verharmlose und die Fragen nach Schuld und Schuldigen völlig außen vor lasse.
Naivität und schonungslose Offenheit
Es liegt wohl an dem unschuldigen Ton des jüdischen Jungen, der seine Deportation mit unglaublicher Genauigkeit beschreibt wie ein verständiger Schüler, der seine Sache gut machen will. Der Autor versagt sich jeden Kommentar und verschärft damit die emotionale Distanz.
Erst die zweite Übersetzung ins Deutsche 1996 brachte Anerkennung und schließlich internationalen Erfolg. Jetzt wurde die Sicht des Jungen für verständlich gehalten. "Schritt für Schritt weicht seine Verwunderung dem Wissen und der Scham. Der Roman beschreibt und erklärt nicht", heißt es im Klappentext, "sondern vollzieht sich. Minute für Minute. Tag für Tag. Seite um Seite".
Für viele Betroffene unerträglich sind auch die Antworten des jüdischen Jugendlichen auf die Fragen von Journalisten bei seiner Rückkehr: "...sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den Gräueln: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse."
Die Naivität und schonungslose Offenheit zugleich charakterisieren seine Erzählung.
Das Lager von Auschwitz
Aufrechnung der ehemaligen Dissidenten
Imre Kertész wurde am 9. Januar 1929 in Budapest geboren. Er wuchs in einer jüdischen Familie auf, bis er 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Später kam er in das Konzentrationslager Buchenwald, aus dem er bei Kriegsende befreit wurde.
Im kommunistischen Ungarn arbeitete er als Journalist und Autor von unterhaltenden Theaterstücken und übersetzte philosophische Werke. Sein Werk "Liquidation", das 2003 erschien, sollte ein Rückblick aus dem Ungarn nach der Wende sein.
Ein 45-jähriger Verlagslektor grübelt über dem Manuskript seines Freundes. Dieser hat 1990 über die Liquidation – im Ungarischen bedeutet das Wort auch "Aufrechnung" – des Verlages ein Theaterstück geschrieben und sich anschließend umgebracht.
Sein letztes Buch jedoch ist verschwunden. Die Suche danach ist zugleich Erinnerungsarbeit über das Leben einer Generation jüdischer Intellektueller, die im sozialistischen Ungarn Dissidenten waren.
2002 wurde Kertész mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Die Jury würdigte sein Bemühen, die Möglichkeiten zu erforschen, noch als Einzelner in einem Zeitalter zu leben und zu denken, in dem die Menschen sich immer vollständiger staatlicher Macht untergeordnet haben.
Das Thema Holocaust und dessen Spätfolgen für die Überlebenden hat Kertész in zahlreichen seiner Romane vertieft. Am 31. März 2016 starb der an Parkinson erkrankte Schriftsteller in seiner Heimatstadt Budapest.
Berühmte ungarische Literaten
Neben Imre Kertész haben schon andere Autoren die Grenzen der sprachlichen Enklave Ungarn überschritten und im Rampenlicht gestanden. Péter Esterházy zum Beispiel, der in "Harmonia Caelestis" seinem Vater ein Denkmal setzte. Erschütternd die darauf folgende "Verbesserte Ausgabe", jene Erzählung, die dokumentarische Züge hat.
Esterházy entdeckte – die ersten Druckfahnen von "Harmonia Caelestis" waren soeben erschienen – vier dicke Dossiers mit Berichten des Stasi-Agenten "Csanadi", der niemand anderes als sein Vater war . Das gerade fertig gestellte Familienepos musste in der Erzählung "Verbesserte Ausgabe" relativiert werden.
Andere ungarische Autoren, die zum Teil schon verstorben sind, wurden in den vergangenen Jahren von einer breiteren Öffentlichkeit wieder entdeckt.
Zum Beispiel Sándor Márai mit seinem Roman "Die Glut" oder Antal Szerb mit seiner "Reise im Mondlicht". Darin wird erzählt, wie eine Hochzeitsreise sich zu einer Reise in die Vergangenheit, zu den Geliebten der Jugend wandelt. Das Buch erschien bereits 1937.
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 27.05.2020)
Quelle: WDR