Das Märchen von der Meerjungfrau
Tief unten im Meer wohnt das Meervolk, schreibt der dänische Dichter und Märchenerzähler Hans Christian Andersen. In der 1837 veröffentlichten Sammlung "Märchen für Kinder" erzählt er die Geschichte der jüngsten von sechs Töchtern des Meereskönigs unter dem Titel "Lille Havfrue", zu Deutsch "Die kleine Meerjungfrau" (auch: "Die kleine Seejungfrau").
Sie ist anders als ihre Schwestern. Sie ist nicht nur schöner, sondern sie hat auch die schönste Stimme. Sie liebt es, wenn die Großmutter von der Welt der Menschen erzählt, von duftenden Blumen und zwitschernden Vögeln. Zu gerne würde sie einmal aus dem Meer emporsteigen.
An ihrem 15. Geburtstag geht der Wunsch in Erfüllung. Da spült ihr die stürmische See einen jungen Prinzen in die Arme. Sie rettet ihn, verliebt sich und wünscht sich, ihn zu heiraten.
Da verspricht ihr die Meereshexe, den Fischschwanz gegen zwei Beine einzutauschen, damit sie an Land gehen könne. Im Gegenzug müsse sie ihr ihre schöne Stimme abgeben. Auch könne sie niemals mehr zurück ins Meer. Wenn der Prinz aber eine andere heirate, verwandle sie sich in Meeresschaum.
Die kleine Meerjungfrau willigt ein. Da sie aber keine Stimme mehr hat, um den Prinzen mit ihrem Gesang zu betören, tanzt sie unermüdlich um ihn herum. Der Prinz aber nimmt eine andere zur Frau, und sie wird zu Meeresschaum. Sie erhebt sich aus dem Meer in die Lüfte, kommt aber immer wieder herab, um auf der Erde Spuren zu hinterlassen.
Ein Bierbrauer lässt sich inspirieren
Die bekannteste Spur, die die kleine Meerjungfrau auf der Erde hinterlassen hat, ist ihr Ebenbild in Bronze an der Kopenhagener Hafeneinfahrt.
Im Jahr 1909 hatte der dänische Komponist Fini Henriques die Idee, eine Musik zu Andersens Märchen zu schreiben und die Balletteuse Ellen Prince de Plane dazu tanzen zu lassen. Noch im gleichen Jahr wurde die "Kleine Meerjungfrau" als Märchenballett im Königlichen Theater von Kopenhagen aufgeführt.
Unter den Besuchern war auch der Bierbrauer Carl Jacobsen, Besitzer der Carlsberg Brauerei und Dänemarks größter Kunstmäzen. Das Ballett faszinierte ihn so, dass er schon im Januar 1910 den Bildhauer Edvard Eriksen beauftragte, eine kleine Meerjungfrau zu modellieren. Der Künstler solle sich aber zuerst einmal das Ballett anschauen.
Touristen besuchen die kleine Meerjungfrau
Mäzen und Künstler im Streit
Der erste Entwurf zeigt die kleine Meerjungfrau ohne Fischschwanz, stattdessen mit Beinen und Füßen auf einem Stein sitzend. So hatte Jacobsen sie sich aber nicht vorgestellt: Eine Meerjungfrau müsse schließlich einen Fischschwanz haben. Bildhauer Eriksen hielt dagegen, dass die kleine Meerjungfrau nach ihrer Verwandlung zum Menschen gezeigt werden solle.
Mäzen und Künstler trennten sich uneinig. Doch schon bald gab der Bierbrauer nach. Es sei wohl besser, wenn der Künstler entscheide. Eriksen war kompromissbereit: Die kleine Meerjungfrau erhielt zwar Beine, aber statt der Füße kleine Flossen.
Bald schon war in der Kopenhagener Presse zu lesen, die Tänzerin Ellen Prince de Plane habe Modell gesessen. Empört dementierte Eriksen diese Meldung. Schließlich sitze eine königliche Solotänzerin nicht nackt vor einem Künstler. Seine Frau Eline sei das Modell gewesen.
1911 konnte die fertige Tonfigur in Bronze gegossen werden. Doch als es darum ging, wo sie aufgestellt werden sollte, gab es wieder Streit zwischen Mäzen und Künstler.
Bierbrauer Jacobsen wollte sie idyllisch von Blumen umgeben an einem kleinen künstlichen Teich sehen, Bildhauer Eriksen dagegen am stürmischen Meer. Der Streit zog sich über zwei Jahre hin. Auch dieses Mal setzte sich der Künstler durch. 1913 fand die kleine Meerjungfrau ihren Platz an der Uferpromenade "Langelinie", am Eingang zur Hafeneinfahrt.
Bronzefigur der kleinen Meerjungfrau an der Hafeneinfahrt
Von Attentaten heimgesucht
Zur Ruhe kommt die kleine Meerjungfrau an Land aber nicht. Tausende Besucher bewundern sie seitdem, manche auch mit bösen Absichten. 1961 wurde ihr ein Bikini aufgemalt, zwei Jahre später wurde sie mit Farbe übergossen – so wie zahlreiche Male später. 1964 sägte man ihr den Kopf ab, was sie auf die Titelseite der "New York Times" brachte.
1984 fehlte ihr der rechte Arm, 1998 wurde sie wieder enthauptet, 2003 vom Sockel gesprengt und ins Wasser gestoßen. Sie überstand auch das und nimmt ihren angestammten Platz immer wieder ein.
1998 war die kleine Meerjungfrau für kurze Zeit kopflos
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 23.07.2019)
Quelle: WDR