Fieberthermometer des Weltklimas
Dass die Eisriesen kaum noch zu retten sind, gilt als sicher. "Die Gletscher sind wohl verloren", erklärt der Schweizer Gletscherforscher Wilfried Haeberli. Doch inwieweit lässt sich der Zusammenhang zwischen Klimaerwärmung und der Gletscherschmelze berechnen?
Das sind Fragen, die Wissenschaftler zu klären versuchen. Untersuchten sie früher die Wirkung des vorstoßenden Eises auf Fels und Boden, so nutzen sie heute ihre Forschungsobjekte immer mehr als "Fieberthermometer des Weltklimas". Denn sobald die Temperaturen der Erde steigen, schmelzen die Gletscher – und das weltweit.
Doch ein Thermometer muss geeicht sein. Im Falle der Gletscher heißt das, die Ursachen des Rückzugs müssen detailliert geklärt sein. Denn eine einfache Kurve, die etwa den Rückgang des Eises mit dem Verlauf der Temperatur vergleicht, wäre verfälscht. Der Grund dafür liegt im Verhalten des Gletschers. Zuwachs und Schmelze werden nicht allein durch die Temperatur, sondern vor allem auch durch die Niederschlagsmenge bestimmt.
Jeder Gletscher ist anders
Kein Gletscher gleicht dem anderen: Hangneigung und Bodenbeschaffenheit sind weitere Faktoren, die über Wachsen und Schrumpfen der Eisriesen entscheiden. Gletscherforschung ist daher eine langfristige Angelegenheit, die viele Faktoren berücksichtigen muss.
Kalte Winter reichen nicht aus, um die weißen Riesen in neuer Pracht erscheinen zu lassen. Wissenschaftler haben festgestellt, dass für einen Zuwachs vor allem kühle und niederschlagsreiche Sommer notwendig wären.
Die Gletscher schmelzen weltweit
Mit den Gletschern verschwindet die Artenvielfalt
Wenn Gletscher tauen, verändert sich die Landschaft. Ehemalige Gletschertäler verwandeln sich in öde Gesteinswüsten, in denen sich nur wenige Lebewesen wohlfühlen. Der Grund dafür liegt in der Wasserknappheit: Bäche von Schmelzwasser versorgten einstmals Pflanzen. Es konnte sich in den Randlagen des Eises Boden bilden, der wiederum Pflanzenwuchs ermöglichte und damit auch Lebensraum für viele Kleintiere schuf.
Verschwinden die Gletscher, verschwindet auch ein Teil der Arten. Die steigenden Temperaturen wirken sich aber auch fatal auf die Geologie der Alpen aus. Denn der dauerhaft gefrorene Boden der Alpen wird instabil. Erdrutsche und Bergabgänge sind die Folge.
Solche Ereignisse verändern nicht nur das Bild der Alpen, sondern sind für die Menschen auch extrem gefährlich, da etwa Berghütten und Skilifte, die ehemals fest auf dauerhaft vereistem Boden standen, ins Rutschen geraten.
Schmelze so stark wie nie zuvor
Ein Blick nach Österreich und Deutschland: Der Vernagtferner im Tiroler Ötztal hat in den vergangenen 150 Jahren zwei Drittel seiner Eismasse eingebüßt. Allein in einem heißen Sommer verliert er bis zu vier Meter durch Schmelzwasser.
Der Gletscher, der einst die Zugspitze, Deutschlands höchsten Berg, bedeckte, muss in etwa 300 Hektar groß gewesen sein. Heute sind davon nur noch der Nördliche und Südliche Schneeferner übrig geblieben. Beide zusammen bedecken heute eine Fläche von knapp 50 Hektar, entsprechen also nur noch einem Sechstel des einstigen Schneeferners. Das Eis zieht sich immer schneller zurück.
Seit dem Jahr 2000 verlieren die Alpengletscher zwei bis drei Prozent ihres Volumens – jedes Jahr. Zwischen 1970 und 2000 war es jährlich noch etwa ein Prozent. Somit wird bis 2050 deutlich mehr als die Hälfte der Gletscherfläche verschwunden sein, die im Jahr 2000 noch vorhanden war, schätzt der Gletscherforscher Wilfried Haeberli.
Der Morteratschgletscher in der Schweiz
Wasserknappheit droht
Durch die Gletscherschmelze droht zudem Wasserverknappung. Denn nur ein Viertel der weltweiten Süßwasserreserven entfällt auf Grundwasser, Seen, Flüsse oder Wasser in der Atmosphäre. Drei Viertel bestehen dagegen aus Eis und Schnee der Polargebiete und Gletscherregionen. Die Glaziologen fürchten, dass in Folge der Gletscherschmelze diese Wasserreserven zurückgehen werden.
So haben etwa zwischen 1985 und 2000 die Zungen des Vernagtferners bis zu 40 Meter an Dicke verloren. Und dieser Gletscher ist kein Einzelfall. Da bisher im Sommer noch genügend Schmelzwasser aus den Gletschern abfließen konnte, wurde auch in Rekordsommern wie 2003 noch keine ernste Wasserknappheit registriert.
Wenn aber das Schwinden der weißen Riesen anhält, werden in manchen Sommern die Brunnen im Alpenraum leer bleiben, denn das Süßwasser aus der Gletscherschmelze ist das Haupttrinkwasser-Reservoir dieser Region. In Rekordsommern wie 2003 kam vom Vernagtferner fast doppelt so viel Wasser in die Täler geflossen wie in den 1960er oder 1970er Jahren.
Allein in den vergangenen 20 Jahren verlor der Gletscher 110 Millionen Kubikmeter Wasser, eine Menge, die dem Trinkwasserverbrauch der Region München innerhalb eines Jahres entspricht.
Gletscher sind wichtige Trinkwasserlieferanten
Gletscherschmelze – wie in den Alpen, so in der Welt
Allein in den Alpen gibt es rund 5000 Gletscher. Berechnungen der Glaziologen zeigen, dass sich ihre Anzahl in den nächsten Jahren halbieren dürfte. Derzeit werden Alternativen gesucht, die Region in Zukunft alternativ mit Trinkwasser zu versorgen. Was für die Alpen gilt, ist fast uneingeschränkt weltweit gültig.
Auf Exkursionen nach Kasachstan und China haben Wissenschaftler die Gletscherschmelze und ihre Folgen untersucht. Die Beobachtungen zeigen alarmierende Ergebnisse auch für Zentralasien: Zunächst herrscht ein Überangebot an Wasser, weil die Eisvorräte schwinden. Sobald die Gletscher abgeschmolzen sind, beginnt die Zeit der Wasserknappheit.
Täler, die einst mächtige Flüsse führten, werden dann ausgetrocknet sein. Doch welches Klima bräuchten Gletscher, um auf ihre einstige Größe anzuwachsen? Die Prognose ist ernüchternd: Der Vernagtferner beispielsweise bräuchte mindestens 200 feuchtkühle Sommer, um das Tal auszufüllen wie noch vor gut 100 Jahren. Gletscher gelten als "schlafende Riesen".
"Schauen wir Gletscher an, dann blicken wir auf die Vergangenheit", sagt Wilfried Haeberli. Denn große Gletscher reagieren sehr langsam, sie passen sich erst nach etwa 50 Jahren einer Klimaveränderung an. Selbst wenn die Erderwärmung sofort gestoppt würde – der Rückgang der Gletscher wäre nicht mehr zu verhindern.
(Erstveröffentlichung 2015, letzte Aktualisierung 23.07.2019)
Quelle: SWR