Atomenergie
Die schwersten Reaktorunfälle
Die Reaktorunfälle von Tschernobyl und Fukushima waren die schwersten in der Geschichte der Atomenergie. Auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) erreichten sie als einzige die Höchststufe 7. Doch schon zuvor gab es schwere Atomunfälle.
Von Lothar Nickels
Die Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima werden offiziell als "Katastrophaler Unfall" (Major accident) geführt. Die INES-Skala wurde 1990 von der Internationalen Atomenergieorganisation eingeführt. Sie dient als Bewertungsgrundlage für die Einordnung von Störfällen atomarer Anlagen in die Stufen 0 bis 7.
Dabei spielen etwa Kriterien wie die Menge freigesetzten radioaktiven Materials und dessen Auswirkung auf Gesundheit und Umwelt eine wesentliche Rolle.
Tschernobyl, Ukraine
Am 26. April 1986 kam es in Block 4 im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl zur Explosion des Reaktors, mit den bis heute schwersten Folgen. Bei einer Sicherheitssimulation geriet die Reaktortemperatur außer Kontrolle, die Kühlstäbe konnten nicht mehr aktiviert werden. Eine Kernschmelze trat ein.
Am 26.04.1986 um 1.23 Uhr explodierte der Reaktor in Tschernobyl
Als Ursachen für den sogenannten Super-GAU gelten die Bauart des Reaktors, Mängel bei Sicherheitsstandards und Fehler in der Bedienung der Anlage durch den diensthabenden Schichtleiter.
Über mehrere tausend Kilometer breitete sich eine radioaktive Wolke aus, die auch in Westeuropa für eine erhöhte Strahlenbelastung sorgte. Nur vier Jahre zuvor hatte sich bereits in Block 1 ein Störfall der Stufe 5 ereignet. Auf der INES-Skala ein "Ernster Unfall" (Accident with wider consequences), der ebenfalls auf einen Bedienungsfehler zurückgeführt wird.
Fukushima, Japan
25 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl ereignete sich in Japan die weltweit zweite atomare Katastrophe der Stufe 7. Auslöser war am 11. März 2011 ein schweres Erdbeben der Stärke 9,0 an der japanischen Pazifikküste, auf das unmittelbar ein verheerender Tsunami folgte.
Dieser überschwemmte das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi mit einer 14 Meter hohen Flutwelle. Die Stromleitungen wurden abgerissen, die Stromversorgung fiel aus. Einige Zeit später schalteten sich dann die Kühlsysteme ab, was in drei der insgesamt sechs Reaktoren zur Überhitzung der Brennelemente und letztlich zu Kernschmelzen führte.
In den nächsten drei Tagen kam es zu Explosionen in den Blöcken 1 bis 4, woraufhin zusätzlich in den Blöcken 3 und 4 mehrere Brände ausbrachen. Die in die Atmosphäre geschleuderten radioaktiven Stoffe verbreiteten sich durch Winde weit über Japan hinaus. Aufgrund der lokalen atomaren Verseuchung mussten etwa 160.000 Menschen in einem Radius von 40 Kilometern umgesiedelt werden.
Windscale, England
Am 10. Oktober 1957 entzündete sich während einer Routineprozedur der Kern einer der beiden Reaktoren im Kernkraftwerk Windscale im Nordwesten Englands. Hier wurde waffentaugliches Plutonium für den Bau britischer Atombomben produziert. Die Löscharbeiten des Brands zogen sich über vier Tage hin. Zu einer Explosion kam es nicht.
Ein Hubschrauber mit Geigerzähler misst die ausgetretene Strahlung in Windscale
Am Ende hatte sich ein See von 9.000 Kubikmeter radioaktivem Wasser um den Reaktor gebildet. Offiziell blieb die Schwere des Vorfalls drei Jahrzehnte geheim. Auf der INES-Skala wird er als "Ernster Unfall" (Accident with wider consequences) der Stufe 5 eingeordnet. Es war die größte Atom-Katastrophe in Großbritannien.
Zwischen 1950 und 1977 war es in Windscale zu insgesamt 194 größeren Unfällen gekommen. In 45 Fällen wurde Plutonium freigesetzt. Offensichtlich aber kein Grund, den Komplex stillzulegen. Im Gegenteil, er wurde zur Wiederaufarbeitungsanlage ausgebaut und der negativ behaftete Name in Sellafield umbenannt.
Kyschtym/Majak, UdSSR
Keine zwei Wochen zuvor kam es in der ehemaligen UdSSR zum drittschwersten Atomunfall nach Tschernobyl und Fukushima. Er wird als einziger der Stufe 6 der INES-Skala geführt und gilt damit als "schwerer Unfall" (Serious accident). Es gibt Experten, die den sogenannte Kyschtym-Unfall wegen der Höhe der radioaktiven Verseuchung sogar auf Stufe 7 sehen.
Zur Katastrophe kam es am 29. September 1957 in der Kerntechnischen Anlage Majak. Im Ural gelegen, war es die erste Anlage, in der die Sowjetunion spaltbares Plutonium für Atomwaffen herstellten konnte. Dabei entstehen hochradioaktive Flüssigkeiten. Diese wurden in Tanks gelagert, von denen einer explodierte.
Die Explosion war hunderte Kilometer entfernt noch als leuchtender Schein zu sehen, berichteten Augenzeugen. In den Sowjet-Zeitungen las man allerdings als Erklärung dafür, es habe sich um ein Polarlicht oder Wetterleuchten gehandelt. Bis in die 1970er-Jahre kam der Unfall nicht an die Öffentlichkeit. Erst 1989 wurde er von der Führung im Kreml bestätigt.
UNSERE QUELLEN
- Planet Schule: "Risiko Atomkraft – Störfälle in aller Welt"
- Bundesamt für Strahlenschutz: "Umweltfolgen des Unfalls von Fukushima – Die radiologische Situation in Japan"
- WayBackMachine: "Windscale / Sellafield –Strahlendes Beispiel Großbritannien"
- Wikipedia: "Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse"
- Atomunfall.de: "Atomunfälle seit 1990"
Quelle: SWR | Stand: 27.10.2020, 17:00 Uhr