In der Mitte einer abgesperrten Straße liegt eine entschärfte Bombe, rundherum stehen vier Männer vom Kampfmittelräumdienst

Sprengstoff

Entschärfung von Blindgänger-Bomben

Bis heute liegen in Deutschland Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg im Boden, die bisher nicht explodiert sind. Wenn sie gefunden werden, müssen sie von Spezialisten entschärft werden. Wie funktioniert das?

Von Ulrich Grünewald

"Bitte verlassen Sie Ihre Wohnung!"

Der Zweite Weltkrieg ist seit mehr als 75 Jahren zu Ende. Trotzdem werden noch jedes Jahr in Deutschland mehrere Tausend Weltkriegsbomben gefunden, die im Boden stecken und noch nicht explodiert sind – so genannte Blindgänger. 2018 waren es allein Nordrhein-Westfalen (NRW) fast 3000.

Denn viele Bomben explodierten damals eben nicht beim Aufprall und wurden auch später nicht weggeräumt, sondern gerieten in Vergessenheit. So liegen sie bis heute als explosive Gefahr in der Erde.

Italien,US-Bomberverband

Nicht alle Bomben explodierten beim Aufprall

Meistens werden die Blindgänger bei Bauarbeiten entdeckt. Dann muss die unmittelbare Umgabung evakuiert werden. Das bedeutet: Niemand darf sich im Sperrbereich aufhalten. Je nach Größe der Bombe kann dieser Sperrbereich einen Radius von 50 Metern bis einem Kilometer haben.

In großen Städten sind dann schnell mehrere Tausend Menschen betroffen. Während sie den Gefahrenbereich verlassen, machen sich die Kampfmittelbeseitiger auf den Weg zur Bombe.

Aufschlagzünder

Vereinfacht gesagt besteht eine typische Fliegerbombe aus zwei Teilen: aus einem kleinen Zünder, etwa in der Größe einer Seifenblasenflasche, und dem großen Bombenkörper, der mit dem Sprengstoff TNT gefüllt ist. Solange sie getrennt sind, sind beide Teile relativ ungefährlich. Zur tödlichen Gefahr werden sie erst in der Verbindung, also wenn der Zünder den Sprengstoff zündet.

Das Ziel der Entschärfung ist es daher, beide Teile voneinander zu trennen. Damit der Zünder dabei nicht auslöst, muss der Kampfmittelbeseitiger als erstes wissen, um welche Art von Zünder es sich handelt. Und da die Bombe meistens irgendwo im Dreck liegt, schlecht zugänglich und halb verrostet ist, ertastet er den Zünder meistens. Es ist also Fingerspitzengefühl gefragt.

Eine Hand hält den Zünder einer Weltkriegsbombe ins Bild, im Hintergrund die entschärfte Bombe

Das Ziel ist es, den Zünder vom Sprengstoff zu trennen

Zwei Arten von Zünder werden unterschieden: Aufschlagzünder und Langzeitzünder. Aufschlagzünder besitzen einen beweglichen Schlagbolzen, der von einer Feder gehalten wird. Wenn die Bombe aufschlägt, saust der Schlagbolzen nach vorne und schlägt auf ein Zündplättchen, so ähnlich wie bei Spielzeugpistolen. Dieses Zündplättchen löst eine Reihe an Verstärkerladungen aus, die schließlich das TNT der Bombe zünden.

Häufig fielen die Fliegerbomben jedoch nicht senkrecht nach unten, sondern leicht seitlich. Wenn sie dann schräg auf die Erde trafen, bekam der Schlagbolzen nicht den Impuls in Richtung Zündplättchen und löste keine Kettenreaktion aus. Die Bombe wurde zum Blindgänger.

Wenn dieser Blindgänger heute bewegt wird und vielleicht sogar auf die Spitze fällt, dann reichen bereits wenige Zentimeter Fallhöhe und der Schlagbolzen nimmt seinen todbringenden Weg.

Querschnitt durch zwei Bombenzünder: oben ein britischer Langzeitzünder, unten ein amerikanischer Aufschlagzünder

Ist es ein Aufschlagzünder (links) oder ein Langzeitzünder (rechts)?

Langzeitzünder

Noch gefährlicher sind die Langzeitzünder. Bei ihnen ist der Schlagbolzen durch eine Feder gespannt und wird nur durch einen Sicherungsring aus dem Kunststoff Zelluloid gehalten. Davor ist ein kleiner Glasbehälter, der mit der ätzenden Flüssigkeit Aceton gefüllt ist.

Beim Abwurf der Bombe wird dieser Glasbehälter zerstört und das Aceton beginnt den Sicherungsring aufzulösen. Je nach Dicke des Rings kann es dann Stunden oder Tage dauern, bis der Schlagbolzen frei geätzt ist, auf das Zündplättchen saust und die Bombe auslöst.

Wenn die Bombe jedoch schräg aufschlägt oder mit der Spitze nach oben zu liegen kommt, dann erreicht nur ein Teil des Acteons den Sicherungsring. Es kann dann mehrere Jahrzehnte dauern, bis dieser nachgibt. Und das passiert dann ganz spontan, ohne Erschütterung oder fremdes Zutun. Rund einmal im Jahr kommt es in Deutschland zu einer solchen Selbstdetonation.

Da von außen der Zustand des Sicherungsrings nicht erkennbar ist, sind Bomben mit Langzeitzünder für die Kampfmittelbeseitiger besonders gefährlich. Schon durch eine kleine Bewegung der Bombe kann ein fast aufgelöster Sicherungsring seinen letzten Halt verlieren und zur Explosion führen.

Jede Entschärfung ist anders

Sobald klar ist, um welche Zünder-Art es sich handelt, kann sich der Kampfmittelbeseitiger Gedanken über die Entschärfung machen. Ist es ein einfacherer Aufschlagzünder ohne zusätzliche Sicherungen, kann er den Zünder häufig einfach mit einer Rohrzange herausdrehen.

Es gibt aber auch Aufschlagzünder, die mit zusätzlicher Mechanik so präpariert sind, dass der Schlagbolzen auch auslöst, wenn der Zünder herausgedreht wird. Dann kommt zum Beispiel das Ausdrehimpulsgerät zum Einsatz, das die Kampfmittelbeseitiger auch "Raketenklemme" nennen. Das flache rechteckige Gestell wird mit Schrauben an dem Zünder festgeklemmt.

An zwei gegenüberliegenden Seiten ist je ein Rohr mit einer Treibladung angebracht, so ähnlich wie eine Silvesterrakete – daher der Name Raketenklemme. Der Kampfmittelbeseitiger zündet sie aus sicherer Entfernung. Die Raketenklemme dreht den Zünder dann so schnell aus der Bombe, dass der Schlagbolzen ins Leere schlägt.

Bei Langzeitzündern setzen die Kampfmittelbeseitiger gerne auf das Wasserstrahlschneidgerät. Mit hohem Druck wird durch eine kleine Düse Wasser gedrückt. Der Strahl ist dadurch so hart, dass er sogar Stahl zerschneiden kann. Das Gerät wird vor dem Zünder platziert und ferngesteuert. Die Erschütterungen sind dabei relativ gering, so dass der Sicherungsring kaum zusätzlich belastet wird und der Zünder nicht auslöst.

Manchmal hilft aber nur neuer Sprengstoff gegen alten Sprengstoff. Die Bombe wird mit modernem Plastiksprengstoff kontrolliert zur Explosion gebracht. Auch das nennen die Kampfmittelbeseitiger Entschärfung.

Um die Wucht der Explosion zu dämpfen, wird die Bombe dann mit Stroh, Sand oder Wasser umschlossen und dadurch gedämmt. So sollen die Schäden minimiert werden. Doch so gut “kontrollierte Sprengung“ klingt: Das einzige, was die Kampfmittelbeseitiger dabei wirklich kontrollieren, ist die Uhrzeit.

Eine Granate konnte nicht entschärft werden. Sie wird kontrolliert in die Luft gejagt.

Manchmal muss kontrolliert gesprengt werden

Kein Job für Draufgänger

"Mir ist sehr bewusst, dass das jedes Mal meine letzte Bombe sein kann. Und egal, ob ich eine 50-Kilo-Bombe entschärfe oder eine 1000-Kilo-Bombe: Wenn's in die Hose geht, ist das Ergebnis für mich immer dasselbe", sagte der erfahrene Kampfmittelbeseitiger Karl-Heinz Clemens einmal.

Was Clemens und seine Kollegen am meisten stört, sind Menschen, die sich weigern, den Sperrbereich zu verlassen. Sie bringen den Zeitplan durcheinander und sorgen für zusätzliche Gefahr. Denn mit der Entschärfung darf erst begonnen werden, wenn alle Unbeteiligten den Sperrbereich verlassen haben.

Wenn aber Menschen ihre Wohnung nicht verlassen und erst mühsam von der Polizei eingesammelt werden müssen, dann muss der Kampfmittelbeseitiger untätig warten. Schnell verschiebt sich dann der Beginn der Entschärfung um mehrere Stunden und liegt plötzlich mitten in der Nacht. Der Kampfmittelbeseitiger hat dann nicht nur mit dem Blindgänger zu kämpfen, sondern zusätzlich mit Dunkelheit und Müdigkeit.

(Erstveröffentlichung 2019. Letzte Aktualisierung 08.10.2020)

Quelle: WDR

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