Ein Volk auf der Anklagebank
1945 hatte Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren. Die Siegermächte wollten mit Hilfe von Fragebögen herausfinden, wer wie stark an den Nazi-Verbrechen und in der Nazi-Partei NSDAP beteiligt gewesen war. Alle Deutschen, die älter als 18 Jahre waren, mussten daher eine Reihe von Fragen beantworten: "Waren Sie jemals ein Mitglied der NSDAP?", "Waren Sie Mitglied irgendeiner verbotenen Oppositionspartei oder -gruppe seit 1933?", "Haben Sie seit 1939 Militärdienst geleistet?"
Bei der Auswertung der Fragebögen wurden die Deutschen in fünf Kategorien eingeteilt: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Wer als Hauptschuldiger einstuft wurde, dem drohten bis zu zehn Jahre Gefängnis, ein Berufsverbot oder eine hohe Geldstrafe. Mitläufer zahlten meist nur eine geringe Strafe.
Beschuldigte hatten allerdings die Möglichkeit, sich von Freunden und Bekannten ihre Unschuld bescheinigen zu lassen. Diese Dokumente wurden "Persilscheine" genannt – in Anlehnung an das Waschmittel Persil, da sich viele Menschen damit von ihrer Schuld "reinwaschen" ließen.
Viele Nazis entgingen so einer Bestrafung, einige konnten auch in der Bundesrepublik wieder eine berufliche Karriere machen. Daher entstand bald der Eindruck, die Entnazifizierung werde nicht konsequent und ehrlich durchgeführt. Damals kam der Spruch auf: "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen".
1951 wurde die Entnazifizierung in der Bundesrepublik Deutschland offiziell beendet. Mehr als 3,6 Millionen Deutsche hatten bis dahin das Entnazifizierungsverfahren durchlaufen. 25.000 waren als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden, rund eine Million galt als "entlastet".
Einige ehemalige Nazi-Politiker konnten auch in der Bundesrepublik wieder Karriere machen. Bekanntestes Beispiel ist der CDU-Politiker Hans Globke: Er hatte 1935 die Nürnberger Rassegesetze mitverfasst, die die juristische Grundlage für die Judenverfolgung legten. Dennoch stieg Globke wieder in der Politik auf und leitete 1953 bis 1963 das Bundeskanzleramt unter Konrad Adenauer.
Die DDR als "antifaschistischer Staat"
Auch in der sowjetischen Besatzungszone, auf deren Gebiet 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet wurde, fand eine Entnazifizierung statt. Aber hier diente sie gleichzeitig dem Ziel, einen sozialistischen Staat nach sowjetischem Vorbild zu schaffen. Dazu wurden nicht nur Nazi-Politiker angeklagt und enteignet, sondern ganze Gesellschaftsschichten, die der sozialistischen Politik kritisch gegenüberstanden – zum Beispiel Großgrundbesitzer, Fabrikbesitzer oder Bankleute. Viele von ihnen wurden in "Speziallagern" interniert.
Während die Nazi-Anführer meist härter bestraft wurden als in den Westzonen, wurde die Schuld der breiten Bevölkerung im Osten kaum aufgearbeitet.
Bei ihrer Gründung definierte sich die DDR als "antifaschistischer Staat". Damit beendete die Führung die Frage nach der eigenen Nazi-Vergangenheit. Als 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde, trug sie offiziell den Namen "Antifaschistischer Schutzwall", denn sie sollte das Land gegen Westdeutschland schützen, das nach Ansicht der DDR-Führung immer noch als faschistisch galt. Neuere Forschungsarbeiten zeigen aber, dass auch in der DDR ehemalige Nazis wieder Karriere in der Politik machen konnten.
"Letztlich versuchte die DDR sich gegenüber dem Westen als moralisch überlegen darzustellen", sagt etwa Franziska Kuschel von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. "Damit war die eigene Bevölkerung entlastet, sich mit dem eigenen Verhalten in der NS-Zeit auseinanderzusetzen, denn man lebte ja im vermeintlich 'guten Teil' Deutschlands und konnte die eigene Vergangenheit damit gut ausblenden."
(Erstveröffentlichung 2024. Letzte Aktualisierung 17.12.2024)
UNSERE QUELLEN
- Alliiertenmuseum Berlin: "Entnazifizierung"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung"
- Museum der Stadt Weinheim: "Entnazifizierung: das politische Großreinemachen"
- Kreismuseum Prinzesshof: Entnazifizierungs-Fragebogen
- Geo Epoche. Das Magazin für Geschichte: "Entnazifizierung – Ein Volk vor Gericht"
- Deutschlandfunk.de: "Entnazifizierung vor 75 Jahren. Demokratie-Grundstein mit durchwachsenem Erfolg"
- MDR.de: "Ein Spiel mit Halbwahrheiten. Von wegen Entnazifizierung: Nazi-Karrieren in der DDR"
- Hanne Leßau: "Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit". Wallstein Verlag, Göttingen 2020