Demokratie lernen
Wie kann man ein Volk, das zwölf Jahre lang in einer brutalen Diktatur gelebt hat, zu überzeugten Demokraten machen? 1933 waren die Nazis an die Macht gekommen, 1939 hatte Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen und ihn 1945 verloren.
Nach dem Krieg starteten die drei westlichen Siegermächte England, Frankreich und USA deshalb ein Bildungsprogramm, das sie "Umerziehung" (englisch: reeducation) nannten. Auf diese Weise wollten sie den Deutschen die Grundregeln der Demokratie beibringen.
Zunächst beschloss man, die deutsche Bevölkerung direkt mit den Verbrechen der Nationalsozialisten zu konfrontieren. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald wurden beispielsweise die Einwohner der nahegelegenen Stadt Weimar durch das Lager geführt. So sollten die Menschen aus nächster Nähe sehen, wie grausam die Deutschen in solchen Lagern vorgegangen waren und dass dort insgesamt Millionen von Menschen getötet worden waren.
Außerdem zeigte die US-Militärregierung in mehreren deutschen Städten den Film "Die Todesmühlen", in denen die Zustände in den Konzentrationslagern gezeigt wurden. Damit möglichst viele Menschen die Filme ansahen, bekamen sie an den Kinokassen Gutscheine für zusätzliche Lebensmittelrationen – ein großer Anreiz, denn kurz nach Kriegsende gab es nur wenig zu essen und viele Menschen litten an Hunger. In manchen Orten entschieden auch die Besatzer, dass die Bevölkerung die Filme anschauen musste.
In Lehr- und Dokumentarfilmen wurde vermittelt, wie Demokratie funktioniert. Sie trugen die Titel "Und was meinen Sie dazu?" oder "Es liegt an Dir" und zeigten den Zuschauern, wie man diskutieren lernt, also auf die Argumente der anderen eingeht und versucht, im Austausch der unterschiedlichen Meinungen Lösungen zu finden.
In der britischen Besatzungszone entstand ab 1946 eine Reihe von "Britischen Informations-Zentren", die sich "Die Brücke" nannten. Hier wurden deutsche und britische Zeitungen, Zeitschriften und Bücher angeboten – in Ausstellungen und Veranstaltungen sollten die Deutschen lernen, die Kulturen anderer Länder zu respektieren. Die heutige Bibliothek "International English Library" in Düsseldorf ist ein Überbleibsel dieser Einrichtungen. Ähnlichen Zwecken dienten die "Amerika-Häuser", die in der US-amerikanischen Zone eingerichtet wurden.
Umerziehung – zu welchem Zweck?
Nun war nicht mehr blinder Gehorsam gefragt, sondern Einsicht, Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Die Menschen sollten verstehen, was sie tun, eigene Ideen einbringen und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und selbständig zu denken. Demokratie sollte nicht von oben herab verordnet, sondern inhaltlich verständlich gemacht werden.
Für Jugendliche wurden zu diesem Zweck Bildungsstätten eingerichtet, etwa der Jugendhof Vlotho in Westfalen. Hier wurden im Spiel Wahlkämpfe veranstaltetet und Bürgermeister und Gemeinderäte gewählt.
Diese Umerziehung stieß allerdings nicht überall auf Gegenliebe. Manche Deutsche fürchteten, dass die Besatzer ihnen bestimmte Denk- und Verhaltensweisen aufdrängen wollten. Bis heute vertreten manche rechtsextreme Gruppen die Ansicht, den Deutschen sei gegen ihren Willen ein neues Staatssystem aufgezwungen worden.
Ironischerweise hatten auch die Nazis schon den Begriff "Umerziehung" benutzt. Bereits in den ersten Konzentrationslagern, die nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nazis im Frühjahr 1933 errichtet wurden, sollten die Häftlinge angeblich lediglich zur nationalsozialistischen Weltanschauung umerzogen werden – eine grausame Verharmlosung, denn in diesen Lagern wurden die Häftlinge oft geschlagen, gequält und sogar getötet.
Umerziehung zum Sozialismus
Auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gab es Umerziehungsprogramme, die sich "antifaschistisch-demokratische Umgestaltung" nannten. Allerdings war dort das Ziel die Erziehung der Menschen nach sozialistischem Vorbild, etwa in der Jugendorganisation "Freie Deutsche Jugend" (FDJ). Im Vordergrund stand hier das Kollektiv, das heißt die einzelne Person sollte sich den Interessen der Gemeinschaft unterordnen.
Dr. Jens Gieseke, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, meint dazu: "Es ging dabei aber nicht um das Erlernen demokratischer Kultur westlichen Stils, sondern um das Mitmachen im SED-Staat. Diese Anpassung fiel manchem früheren NS-Anhänger leicht, weil es durchaus auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Diktaturen gab, wie etwa das Jugendleben in Hitlerjugend und FDJ."
(Erstveröffentlichung 2024. Letzte Aktualisierung 17.12.2024)
UNSERE QUELLEN
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Umerziehung"
- Deutschlandfunk: "Erziehung zur Demokratie. Die Re-Education Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg"
- NDR.de: "KZ Wittmoor – Wo die Nazis auf Umerziehung setzten"
- Karl-Heinz Füssl: "Die Umerziehung der Deutschen. Jugend und Schule unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1945-1955". Verlag Schönigh, Paderborn 1995
- Mosberg, Helmuth: "Reeducation. Umerziehung und Lizenzpresse im Nachkriegsdeutschland". Universitas Verlag, München 1991