
Landleben
Wenn die Dörfer sterben
Fachwerkhäuser, Hühner, ein beschauliches Leben im Grünen: Wir haben romantische Vorstellungen vom Leben auf dem Dorf. Aber viele Dörfer in Deutschland kämpfen um ihre Existenz, weil die Menschen fortziehen.
Von Martina Frietsch
Die "gute alte Zeit"
Mehr als 30.000 Dörfer gibt es heute in Deutschland. Die kleinste deutsche Gemeinde Wiedenborstel in Schleswig-Holstein hat gerade mal ein Dutzend Einwohner, in anderen Gemeinden leben einige tausend Menschen.
Über viele Jahrhunderte hatte das Dorf seine feste Rolle: Die Bauern produzierten die Lebensmittel, mit denen auch die Städte versorgt wurden. Auf dem Land entstanden Handwerk und verarbeitendes Gewerbe, Kleinbetriebe boten Arbeitsplätze.
Doch die "gute alte Zeit" war beschwerlich: Die Dorfbewohner hatten lange, harte Arbeitstage, sie litten unter hohen Abgaben an die Obrigkeit und hatten gleichzeitig nur wenig Rechte. Wer im Dorf geboren war, der blieb auch dort – allerdings nicht immer freiwillig. Die Bauern durften das Gut ihres Leibherren nicht verlassen und auch nicht ohne seine Zustimmung heiraten.
In manchen Gegenden Deutschlands, beispielsweise Westfalen, Württemberg und Hessen, blieb die Leibeigenschaft noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts erhalten.
Mit dem Ende der Leibeigenschaft und dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann die große Abwanderung in die Städte. Land- und Forstwirtschaft nahmen immer weiter ab, Industrie und Dienstleistungen hingegen zu.

Die Arbeitstage waren lang und hart
Ohne Landwirtschaft kein Dorf
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich die Situation der deutschen Dörfer grundlegend. Viele Menschen, die im Zweiten Weltkrieg oder in der Nachkriegszeit in den Dörfern untergekommen waren, wanderten in die Städte ab.
Gleichzeitig wandelte sich die Landwirtschaft: Technische Neuerungen sorgten für mehr Produktivität und damit weniger Arbeitsplätze.
Die Betriebe wurden größer, viele kleine mussten ganz aufgeben. Heute arbeiten weniger als drei Prozent aller Erwerbstätigen in Forst- und Landwirtschaft. Um 1800 waren es noch 80 Prozent. Bauer war damals der häufigste deutsche Beruf.

Moderne Maschinen ersetzen die Handarbeit
Mit diesem Wandel änderte sich auch das Gesicht des Dorfs. Zu kleine Höfe im Ortskern wurden zugunsten von Aussiedlerhöfen aufgegeben. Neubaugebiete am Dorfrand boten zwar bequeme Wohnverhältnisse, doch sie sorgten auch dafür, dass die Ortskerne ihre Funktion und letztlich viele Bewohner verloren.
In den 1960er- und 1970er-Jahren verzeichneten die Dörfer wieder mehr Zuzüge, viele Städter zog es "aufs Land". Letztlich profitierten davon aber vor allem die Randgebiete der Städte, nicht die abgelegenen Dörfer auf dem Land.
Wenn der letzte Laden geht...
Arbeitsplätze außerhalb, Supermärkte auf der grünen Wiese – diese Entwicklung führte bei fast alle Dörfern zum gleichen Problem: Die ursprüngliche Infrastruktur der Orte wurde kaum noch genutzt. Nacheinander schlossen Bäcker, Metzger, Lebensmittelläden, Gaststätten und Bankfilialen. Doch für viele Orte kamen außer dem Verschwinden der Landwirtschaft noch weitere Probleme hinzu.
Bundeswehrstandorte in ländlichen Regionen wurden geschlossen, die Industrie in Bereichen wie Stahl, Schiffsbau, Bergbau baute ab, an Küstenorten fiel die Fischerei weg – allesamt lebensnotwendige Einnahmequellen für die Dörfer in der Nähe. Nach der Wiedervereinigung fehlte den Dörfern im ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiet plötzlich die Zonenrandförderung.

Die alten Geschäfte sind nicht mehr gefragt
Nur die Alten bleiben
Fängt die Infrastruktur eines Dorfs erst an zu bröckeln, ist der Abwärtstrend kaum noch aufzuhalten: Wer keine Einkaufsmöglichkeiten bieten kann, kann auch seine Bewohner nicht halten und schon gar keine neuen hinzugewinnen.
Wenn junge Berufstätige und Familien wegziehen, stehen bald Schulen und Kindergärten leer. Der öffentliche Nahverkehr wird eingeschränkt, sobald er zu wenig genutzt wird. Das Dorf ist im Grunde nur noch mit dem Auto erreichbar. Der Weg zum nächsten Arzt wird vor allem für ältere Leute beschwerlich.
Auch Unternehmen sind von diesem Wandel betroffen. Wenn ihnen nicht genügend qualifiziertes Personal vor Ort zur Verfügung steht, verlieren sie an Wettbewerbsfähigkeit. Junge Leute mit guter Ausbildung, die an manchen Orten keinen geeigneten Arbeitsplatz finden, ziehen wiederum in die Stadt. Für sie bietet das Dorf immer seltener eine Perspektive.

Die Jungen kommen nur noch zu Besuch
Die Politik ist gefragt
Viele Dörfer, in denen der Abwärtstrend bereits eingesetzt hat, brauchen Hilfe zum Überleben. In manchen Bereichen ist die Politik gefragt: Das kann eine Regelung bei der Bereitstellung von Breitbandnetzen sein, aber auch ein geänderter kommunaler Finanzausgleich.
In den meisten Bundesländern bekommen die Dörfer pro Einwohner ohnehin schon eine geringere Zuweisung als die Städte. Jeder, der wegzieht, hinterlässt eine weitere Lücke, der finanzielle Spielraum der Gemeinden wird noch kleiner.
Das Problem der schrumpfenden und sterbenden Dörfer ist bisher in den östlichen Bundesländern besonders groß. Es hat den Westen jedoch längst erreicht. Es wird diskutiert, einzelne Aktionen sollen dem Trend entgegensteuern.
Nicht immer treffen die Wünsche und Nöte der Dörfer bei Politikern auf offene Ohren: Während sich die einen der Rettung der Dörfer verschreiben, sprechen andere schon offen davon, ganze Orte einfach aufgeben zu wollen.
(Erstveröffentlichung 2011. Letzte Aktualisierung 18.03.2020)
Quelle: SWR