Die Industrielle Revolution
01:39 Min.. UT. Verfügbar bis 25.09.2028. Von Christian Brandt, Claudio Como.
Wirtschaft
Industrialisierung in Deutschland
Als Industrialisierung wird der Prozess bezeichnet, wenn ein Land vom Agrarstaat langsam zum Industrieland wird. Viele Produkte werden dann nicht mehr mit der Hand hergestellt, sondern mit Hilfe von Maschinen in Fabriken. Das geschah ab etwa 1760 in Europa so schnell, dass man von einer "Industriellen Revolution" spricht.
Von Kerstin Hilt
Dynamisches England, verschlafenes Deutschland
Um 1800 gab es in Deutschland noch keine einzige Eisenbahnstrecke – hundert Jahre später schon 50.000 Streckenkilometer. In den Städten rauchten Fabrikschlote, an den Börsen wurde wild spekuliert, zu Hause brannten Glühbirnen statt Kerzen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag Deutschlands Wirtschaft im Dornröschenschlaf. Die meisten Menschen arbeiteten jahraus, jahrein auf dem Feld oder im Stall. Das Handwerk litt unter starren Zunftschranken. Manche Familien versuchten, sich in mühsamer Heimarbeit mit Spinnen oder Weben ein Auskommen zu verdienen.
Ein anderes Bild bot sich in England: Dort trieb die erste industrielle Spinnmaschine, die "Spinning Jenny", die Textilproduktion zu immer neuen Rekorden, Dampfmaschinen halfen bei der Kohleförderung, und mit den englischen Kolonien in Übersee gab es für die neuartigen Erzeugnisse der Industrie auch genügend Abnehmer. Die Industrielle Revolution war in vollem Gange.
Alles mit der Kraft der Dampfmaschine: Fabrik in England
In Deutschland, einer zersplitterten Nation ohne gemeinsames Staatsgebiet, konnte man sich nicht einmal auf einheitliche Maße, Gewichte, Währungen einigen. Noch dazu schotteten viele Teilstaaten ihre Märkte mit Zöllen gegeneinander ab.
In England begann die Industrialisierung als Werk von technischen Tüftlern und wagemutigen Investoren. Gut ein halbes Jahrhundert später wurde sie auch in Deutschland angestoßen.
Napoleon erzwang ab 1803 eine Neuordnung Deutschlands, viele Kleinstaaten verschwanden. Preußen befreite 1807 die Bauern aus der Leibeigenschaft, 1834 schließlich konnten mit der Gründung des Deutschen Zollvereins Waren zollfrei von einem in den anderen Staat gelangen. Ein Anfang war gemacht.
Lokomotive der Industrialisierung: der Eisenbahnbau
Zum Wachstumsmotor der zersplitterten deutschen Wirtschaft wurde eine Industrie, die geradezu dafür geschaffen war, Getrenntes miteinander zu verbinden: der Eisenbahnbau.
Ab den 1830er-Jahren entstanden im ganzen Land Bahntrassen. Um die herzustellen, brauchte es Eisen, und um Eisen zu Stahl zu verarbeiten, brauchte es Kohle. Ein Kreislauf, der sich stetig selbst verstärkte und bald eine industrielle Eigendynamik entwickelte.
1835 fuhr der erste Zug von Nürnberg nach Fürth
Allerdings: Manche Regionen profitierten stärker von diesem ersten deutschen Wirtschaftswunder als andere. Das Ruhrgebiet entwickelte sich schnell zum Zentrum der Kohleförderung und hatte mit der Firma Krupp einen wichtigen Stahlproduzenten vor Ort.
In Sachsen, wo 1850 schon mehr Menschen in der Industrie und im Handwerk beschäftigt waren als in der Landwirtschaft, profitierte vor allem der Maschinenbau. Denn der hatte rund um Chemnitz schon seit der Frühindustrialisierung in den 1820ern Tradition – auch wenn man damals noch eher Spinn- und Webmaschinen für die Textilindustrie hergestellt hatte.
In Berlin schließlich feierte die Firma Borsig mit ihren Lokomotiven Triumphe. Regionen wie Ostpreußen lebten dagegen bis spät ins 19. Jahrhundert hinein fast ausschließlich von der Landwirtschaft und wurden auch nur äußerst zögerlich ans Eisenbahnnetz angebunden.
Die Borsigwerke in Berlin prägen ein ganzes Stadtviertel
Mitte der 1850er-Jahre kam der erstarkenden Wirtschaft ein weiterer Faktor zugute: Nach Jahrzehnten der Armut wuchs endlich auch die Nachfrage nach Konsumgütern. Die Textilindustrie boomte, Genussmittel wie Tabak und Zucker – letzterer bis vor kurzem ein Luxusprodukt – fanden reißenden Absatz. Dank steigender Löhne bekamen selbst die Arbeiter ihr (kleines) Stück vom Kuchen.
Auf der Suche nach Arbeit: Deutschland zieht um
Noch 30 Jahre zuvor hätte diesen Aufschwung kaum jemand für möglich gehalten. Die Bevölkerung wuchs rasant – auch, weil Medizin und Hygiene Fortschritte machten. Nur Arbeit gab es nicht. Wirtschaftshistoriker werden später für diese Zeit einen Mangel von 800.000 Arbeitsplätzen errechnen und von der sogenannten Pauperismuskrise sprechen – abgeleitet vom lateinischen Wort pauper für "arm".
Viele Menschen verließen nun ihre Heimat und suchten ihr Glück in Übersee. Jetzt, in den 1850ern, hatte die Industrie mit ihrem Hunger nach Arbeitskräften dieses Problem zunächst gelöst – schuf aber gleich wieder neue. Denn die gesellschaftlichen Umbrüche, die die Industrialisierung mit sich brachte, waren gewaltig.
Jahrtausende lang hatten die meisten Menschen ihr ganzes Leben an dem Ort verbracht, an dem sie auch geboren worden waren. Jetzt zog man der Arbeit hinterher: von Ostpreußen bis ins Ruhrgebiet, von Oberfranken nach Sachsen, von Mecklenburg nach Berlin.
Waren Fabriken oder Kohlegruben in der Nähe, konnten vormals kleine Marktflecken unversehens zu respektablen Städten werden: Gelsenkirchen im Ruhrgebiet etwa wuchs zwischen 1871 und 1910 um das Zehnfache.
Berlin steigerte sich in dieser Zeit immerhin von 800.000 auf zwei Millionen Einwohner. Begünstigt wurde diese gesellschaftliche Dynamik auch von der politischen Großwetterlage:
Seit 1871, dem Jahr der Reichsgründung, hatte die deutsche Wirtschaft den Boom der Gründerjahre erlebt – im Nachhinein haben Historiker hier den Beginn der Hochindustrialisierung angesetzt.
Während der Frühindustrialisierung besonders arm: die schlesischen Weber
Einzimmerwohnung mit Etagenklo: wie Arbeiter leben
Für den einfachen Arbeiter verhieß dieser Aufschwung wenig Gutes. In den Städten kam der Wohnungsbau dem Bedarf nicht hinterher: Ganze Familien pferchten sich in ein einziges Zimmer, vermieteten manchmal sogar das letzte freie Bett an einen sogenannten Schlafgänger. Die Toilette im Treppenhaus teilte man sich mit den Mietern von nebenan.
Ein Zimmer für Kochen, Wohnen, Schlafen
Noch dazu waren die Arbeitsbedingungen in den Fabriken oft unvorstellbar hart: 1872 lag die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 72 Stunden. In vielen Branchen wie etwa der gerade entstehenden Chemieindustrie gab es so gut wie keinen Gesundheitsschutz.
Schon fürchteten Fabrikbesitzer und die Politik den Aufstand – und reagierten. Reichskanzler Bismarck etwa verfolgte eine zweigleisige Strategie. Einerseits wollte er mit dem Sozialistengesetz von 1878, einem umfassenden Verbot sozialdemokratischer Organisationen, die Arbeiterbewegung schwächen.
Andererseits linderte er die schlimmsten Nöte mit einer Sozialgesetzgebung, die europaweit vorbildlich ist: Seit 1883 gibt es in Deutschland eine Krankenversicherung, seit 1884 eine Unfallversicherung, bald kamen noch Invaliditäts- und Rentenversicherung dazu. Parallel dazu riefen viele Unternehmen ihre eigene betriebliche Sozialpolitik ins Leben.
Erfolge und Schattenseiten der Industrialisierung
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich der einstige Spätzünder Deutschland zum Industriewunder gemausert und überflügelte in manchen Branchen sogar den Pionier Großbritannien.
Vor den Schattenseiten der Industrialisierung verschloss man allerdings noch die Augen: Stickige Luft und verschmutzte Flüsse wurden damals als notwendige Begleiterscheinung des Aufstiegs hingenommen. Ein Bewusstsein für die Grenzen des Wachstums entstand erst ein Jahrhundert später.
Trotzdem: Dass die neue Zeit auch neue Zwänge geschaffen hatte – dafür hatten viele damals ein feines Gespür. So schrieb etwa der Philosoph Ludwig Klages 1913: "Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr: sei es als Sklaven des Berufs, sei es als Sklaven des Geldes, sei es endlich als Sklaven großstädtischen Zerstreuungstaumels. In keiner Zeit noch war die Unzufriedenheit größer und vergiftender."
(Erstveröffentlichung: 2009. Letzte Aktualisierung: 18.03.2020)
Quelle: WDR