Der wilde Vorgänger
Welche Art Fußball im Mittelalter auf der britischen Insel gespielt wurde, lässt sich in der mittelenglischen Ortschaft Ashbourne noch heute nachempfinden: Jedes Jahr strömen am Faschingsdienstag (Shrove Tuesday) und Aschermittwoch Hunderte Menschen zusammen – zum "Shrovetide Football", einer frühen Form des Fußballs, wie sie schon im 12. Jahrhundert gespielt wurde.
Ein medizinballgroßer Ball wird in die Menschenmenge geworfen und los geht's. Regeln gibt es nur wenige. Die beiden Mannschaften dürfen so viele Spieler haben, wie sie wollen. Gespielt wird acht Stunden lang, das Spielfeld ist mehrere Kilometer groß und umfasst auch den örtlichen Fluss.
Auch in Italien kannte man bereits in der Renaissance einen Vorläufer des heutigen Fußballs: Der "Calcio Storico" gilt inzwischen als eine der brutalsten Sportarten der Welt und wird bis heute in Florenz gespielt.
Bis ins 19. Jahrhundert standen sich in England bei solchen wilden, ungeregelten Folk-Football-Partien oft ganze Stadtviertel oder Dörfer gegenüber. Das Spiel war eine brutale Angelegenheit und diente zuweilen wohl auch nur als Anlass für eine Massenprügelei. Die Obrigkeit sah darin eine Bedrohung der sozialen Ordnung und verbot es immer wieder.
Mit der Industrialisierung und Urbanisierung verlor der Folk Football an Bedeutung und spielte spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts keine Rolle mehr – außer natürlich bei Folklore-Veranstaltungen wie dem Shrovetide Football von Ashbourne.
Shrovetide Football in Ashbourne
Vom Prügeln zum geregelten Spiel
Bereits im 16. Jahrhundert gab es auch hinter den Mauern der britischen Eliteschulen (Public Schools) fußballähnliche Spiele. Gesitteter als beim Folk Football des einfachen Volkes ging es aber auch bei den Sprösslingen der reichen adeligen Familien nicht zu. Es wurde gestoßen, getreten, geschlagen – praktisch alles war erlaubt, um an den Ball zu kommen.
Bis ins 19. Jahrhundert waren diese wilden Spiele den Lehrern der Public Schools ein Dorn im Auge. Um sie aber dauerhaft zu verbieten, fehlte es den bürgerlichen Lehrern gegenüber der adligen Schülerschaft an der nötigen Autorität.
Findige Pädagogen machten ab den 1830er-Jahren aus der Not eine Tugend: Das Ballspiel wurde nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert. Es sollte fortan dazu dienen, den Schülern Tugenden wie Fairness, Teamgeist und Selbstbeherrschung beizubringen.
1846 fixierte die Schule im mittelenglischen Rugby die ersten schriftlichen Regeln für das Ballspiel. Weitere Public Schools folgten. Die Regeln unterschieden sich allerdings von Schule zu Schule zum Teil erheblich. Bei einigen stand das Spiel mit der Hand im Vordergrund, bei anderen das Schießen mit dem Fuß.
Im 19. Jahrhundert spielte fast jeder nach eigenen Regeln
Fußball und Rugby gehen getrennte Wege
Trafen sich ehemalige Schüler als Studenten an der Universität zum gemeinsamen Ballspiel, gab es zunächst heillose Verwirrung, denn jeder spielte nach den Regeln seiner früheren Public School. Gemeinsame Regeln mussten her.
Vorreiter war die Universität Cambridge: 1848 wurden hier die "Cambridge Rules" formuliert, die dem Spiel mit dem Fuß den Vorzug gaben. Sie wurden in den folgenden Jahren erweitert und dienten 1863 auch als Diskussionsgrundlage, als die Geburtsstunde des modernen Fußballs schlug.
Vertreter von elf Fußballklubs trafen sich im Herbst 1863 in der Londoner Freimaurer-Taverne, um allgemeingültige Spielregeln festzulegen, die auch außerhalb von Cambridge gelten sollten. Zunächst gaben sie sich einen festen organisatorischen Rahmen, indem sie die Football Association (FA) gründeten, den ersten nationalen Fußballverband der Welt.
Bei der Diskussion der Regeln setzten sich die Vertreter durch, die das Spiel mit der Hand auf ein Minimum begrenzen wollten. In 14 Regeln legte die FA die Grundlage für den modernen Fußballsport.
Besonders das Verbot von Tritten, Halten und des Tragens des Balls war für die Anhänger der härteren Spielvariante, wie sie unter anderem in Rugby etabliert war, nicht zu akzeptieren. Sie verließen die FA, gründeten 1871 die Rugby Football Union und trennten sich damit endgültig vom Fußball.
Den Rugby-Fans war Fußball nicht hart genug
Fußball wird zum Massensport
Die Regeln waren zwar von einigen hohen Herren am grünen Tisch entworfen worden, doch in wenigen Jahren eroberte Fußball die Herzen der breiten Masse. Das Spiel entwickelte sich zum Lieblingszeitvertreib der britischen Arbeiter. Als diese in Arbeitskämpfen höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten durchgesetzt hatten, war es ihnen auch möglich, sich dem Fußballsport zu widmen, sei es als Spieler oder als Zuschauer.
Zeitgleich zur wachsenden Beliebtheit feilte die FA weiter an den Regeln und sorgte für den organisatorischen Rahmen des neuen Massensports. 1871 wurde der "FA Cup" eingeführt, der englische Pokal. Ein Jahr später trafen Schottland und England in Glasgow im ersten offiziellen Länderspiel aufeinander. Es endete 0:0.
Länderspiel zwischen England und Schottland 1883
Fußball erobert die Welt
Es waren vor allem britische Geschäftsleute und Studenten, die den Fußball nach Kontinentaleuropa und Südamerika brachten. In Europa machte die Schweiz den Anfang. Englische Schüler, die Schweizer Privatschulen besuchten, führten dort in den 1860er-Jahren ihre Sportarten ein. Bereits 1860 wurde der Lausanne Football Cricket Club gegründet. 1879 riefen englische Studenten den FC St. Gallen ins Leben.
Einmal mit dem Fußballvirus infiziert, avancierten die Schweizer selbst zu einem wichtigen Exporteur des Spiels. So gründete beispielsweise der junge Schweizer Fußballer Hans Gamper 1899 den FC Barcelona. Neben der Schweiz waren auch Dänemark und die Niederlande Fußball-Vorreiter, die beide 1889 nationale Verbände gründeten.
Die Anfänge in Deutschland
Natürlich schwappte der neue Sport in dieser Zeit auch nach Deutschland über, traf dort jedoch zunächst auf starke Konkurrenz: Turnen war Nationalsport, und Fußball wurde von den Turnanhängern als "undeutsch", "Fußlümmelei" oder "englische Krankheit" diffamiert. Wegen dieses Widerstands der Turnvereine setzte sich der neue Sport langsamer durch als in vielen anderen europäischen Ländern.
Neben den Fußballgegnern gab es jedoch auch Förderer, zum Beispiel Konrad Koch. Der junge Braunschweiger Gymnasiallehrer brachte seinen sportunwilligen Schülern 1874 einen englischen Fußball mit – und siehe da: Die Schüler stürzten sich mit Begeisterung auf das neue Sportobjekt. In theoretischen Schriften versuchte Koch zudem den Vorwurf der Turnerschaft zu entkräften, das Spiel, das damals noch viele Rugby-Elemente hatte, sei ein "undeutsches" Spiel.
Nach und nach etablierte sich Fußball als Schulspiel an den höheren Lehranstalten. Viele Schüler sahen in dem Spiel eine wohltuende Alternative zum oft militärischen Drill der Turnübungen. Die ersten Fußballklubs gingen aus Schülervereinen hervor oder wurden von Engländern gegründet (zum Beispiel The English Football Club Berlin).
Auch wenn ihm der Wind der Turnerschaft entgegenwehte, gewann Fußball in allen Gesellschaftsschichten Anhänger und stellte sich nach und nach auch organisatorisch besser auf: In den 1890er-Jahren gründeten sich zahlreiche Vereine, und 1900 wurde in Leipzig der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ins Leben gerufen.
1892: Spiel zwischen Dresden und Berlin
Bis zur ersten Deutschen Meisterschaft nach den Regeln der britischen FA dauerte es allerdings noch drei Jahre. Im Finale besiegte der VfB Leipzig den DFC Prag mit 7:2. Wiederum fünf Jahre später hatte die deutsche Nationalelf ihren ersten Auftritt. In Berlin unterlagen die Deutschen am 5. April 1908 der Schweiz mit 3:5.
(Erstveröffentlichung 2010. Letzte Aktualisierung 15.05.2020)
Quelle: WDR