Schatten zweier Personen.

Kriminalistik

Wie viel die Angst vor Kriminalität mit echter Kriminalität zu tun hat

Obwohl es laut Kriminalstatistik weniger Straftaten in Deutschland gibt, wächst die Zahl der Menschen, die Angst vor einer Straftat haben. Ein Widerspruch?

Von Frank Drescher

Ein Rätsel für Kriminologen

"Wie sicher fühlen Sie sich – oder würden Sie sich fühlen –, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit allein zu Fuß unterwegs in Ihrer Wohngegend unterwegs sind oder wären? Sehr sicher, eher sicher, eher unsicher, sehr unsicher?"

Im Auftrag des Bundeskriminalamts (BKA) stellten Forscher diese Frage in den Jahren 2012 und 2017 im Rahmen des "Deutschen Viktimisierungssurvey" (von Lateinisch victima "Opfer" und Englisch survey "Untersuchung"), einer großen Studie zur Angst vor Verbrechen und zur Bestimmung der Dunkelziffer, also des Anteils von Straftaten, der nicht zur Anzeige gelangt.

Mit jeweils mehr als 30.000 Befragten hatten diese beiden Untersuchungen dreißigmal mehr Teilnehmer als Meinungsumfragen wie der ARD-Deutschlandtrend, der regelmäßig die Wähler fragt, wen sie wählen würden, wenn am kommenden Sonntag eine Wahl stattfände.

Zwei Männer auf einem Roller klauen eine Tasche einer Frau.

Text: Immer mehr Deutsche fürchten sich vor einem Raubüberfall

2012 antworteten noch rund 17 Prozent der Befragten mit "eher unsicher" oder "sehr unsicher", fünf Jahre später waren es schon 22 Prozent. Nach Delikten befragt, stieg der Anteil derjenigen, die sich vor einem Einbruch fürchteten, von 18,8 auf 24 Prozent an und der Anteil derer, die sich vor einem Raub fürchteten, von 18,6 auf 20,9 Prozent. Das entspricht Zuwachsraten von 28 Prozent (Einbruch) und 12 Prozent (Raub).

Dabei ging laut Polizeilicher Kriminalstatistik in der gleichen Zeitspanne die Gesamtzahl der angezeigten Straftaten um 4 Prozent zurück, die Fälle von Einbruch und Raub sogar um je rund 20 Prozent.

Wie passt das zusammen: Gehen immer weniger Verbrechensopfer zur Polizei? Zu Beginn der Erforschung von Kriminalitätsfurcht und Dunkelfeldern Mitte des 20. Jahrhunderts stand die Annahme, dass sich vor Verbrechen fürchtet, wer schon einmal einem zum Opfer gefallen ist, erzählt Dina Hummelsheim-Doß, Kriminologin am Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht im Gespräch mit Planet Wissen.

Ein man schreibt Codes auf seinem Computer.

Internetkriminalität wird häufig nicht angezeigt

Haben nur Verbrechensopfer Angst vor Kriminalität?

Folgt man dieser Annahme, dann wäre eine gestiegene Dunkelziffer die Erklärung für den Widerspruch aus gesunkenen Fallzahlen bei steigender Verbrechensfurcht. Aber ist das überhaupt möglich, dass immer weniger Opfer zur Polizei gehen, um Anzeige zu erstatten? So etwas kommt vor, wenn sie glauben, dass die Polizei die Täter nicht fassen würde.

Bei Wohnungseinbrüchen aber erscheint das wenig plausibel, denn ohne Anzeige gibt es hier keinen Schadenersatz von der Versicherung. Die Zahl der Hausratpolicen in Deutschland ist aber von 2012 bis 2017 um eine Million Verträge gestiegen

Antrag auf Hausratversicherung.

Die steigende Zahl von Hausratsversicherungen spiegelt die Angst vor einem Einbruch

Den Ursachen von Kriminalitätsfurcht auf der Spur

Die Annahme, dass sich in erster Linie diejenigen vor Kriminalität fürchteten, die selbst schon einmal Opfer einer Straftat wurden, sei zudem widerlegt, sagt Kriminologin Dina Hummeslheim-Doß: "Opfer haben nicht zwangsläufig eine höhere Verbrechensfurcht als Menschen ohne direkte Erfahrungen als Kriminalitätsopfer".

Wie lässt sich aber dann das Rätsel aus sinkender registrierter Kriminalität und steigender Angst vor ihr lösen? Internationale Studien zeigen, dass die Furcht vor Kriminalität abhängt von Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Einkommen und Wohnort der Befragten. Der Deutsche Viktimisierungssurvey von 2012 stellte fest, dass sich Frauen sehr viel stärker davor fürchten, Opfer eines Verbrechens zu werden, obwohl ihr statistisches Risiko deutlich geringer als das von Männern ist, Kriminellen zum Opfer zu fallen.

Am wenigsten fürchten sich Menschen im Alter von 36 bis 54 Jahren vor Kriminalität. Doch ihr Bevölkerungsanteil sank von 29 Prozent (2012) auf 26 Prozent (2017) herab, sodass die Alterung der Gesellschaft ein Teil der Erklärung sein könnte.

Frau läuft bei Nacht durch eine Straße.

Vor allem Frauen fürchten sich davor, Opfer eines Verbrechens zu werden

Wie Müll auf der Straße und kaputte Fenster Kriminalitätsangst beeinflussen

Es gibt aber noch mehr Gründe für den Widerspruch. Die Kriminologen Helmut Hirtenlehner, Professor an der Universität Linz, und Max-Planck-Forscherin Dina Hummelsheim-Doß weisen darauf hin, dass die Angst vor Kriminalität umso geringer ist, je freundlicher die Befragten ihr Wohnumfeld wahrnehmen und je enger sie den sozialen Zusammenhalt dort erleben.

In den 1990er-Jahren wurde dieses Phänomen als "Broken-Windows"-Theorie bekannt. US-Forscher stellten dabei einen Zusammenhang zwischen sozialen Regelverletzungen wie Vandalismusschäden an leerstehenden Gebäuden und Kriminalität her.

Dabei scheint dieser Faktor in angelsächsischen Ländern eine größere Rolle zu spielen als in deutschsprachigen. Manche deutsche Forscher vertreten die Auffassung, dass die Angst vor Verbrechen nicht isoliert auftrete, sondern einhergehe mit anderen, durch gesellschaftliche Umbrüche ausgelösten Ängsten, wie etwa der Angst vor Armut.

So fiel nach der Vereinigung Deutschlands Forschern auf, dass in den fünf neuen Ländern die Furcht vor Kriminalität deutlich höher war als im Westen Deutschlands, sich im Laufe der 1990er-Jahre aber auf das Niveau im Westen absenkte.

Kann Sozialpolitik die Angst lindern?

Max-Planck-Forscherin Hummelsheim-Doß hat zudem in mehr als 20 Ländern Europas untersucht, welche Zusammenhänge zwischen der Sozialpolitik eines Landes und der dort herrschenden Angst vor Verbrechen bestehen. Ihr Fazit: "In Ländern mit umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, vor allem Sachleistungen für Familien und höheren Bildungsausgaben, haben Menschen eine geringere Kriminalitätsfurcht. Sozialleistungen für Familien und Bildungsausgaben sind daher als die entscheidenden Faktoren zu betrachten.

Ihrer Untersuchung zufolge fürchten sich die Skandinavier am wenigsten vor Verbrechen, Osteuropäer, Briten und Iren am stärksten. Bei Deutschen, Niederländern und Franzosen sei die Angst vor Verbrechen mittelmäßig stark ausgeprägt.

Quelle: SWR | Stand: 09.03.2020, 10:00 Uhr

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