Eine Familie vor dem Fernsehgerät, Bundesrepublik Deutschland, 1960.

Kapitalismus

Soziale Marktwirtschaft und Rheinischer Kapitalismus

"Wohlstand für alle" – das versprach die Politik in den 1950er-Jahren den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Jeder sollte am Wirtschaftswunder teilhaben. Doch der Aufschwung kam an seine Grenzen.

Von Carsten Günther

Von der "Stunde Null" zum Wirtschaftswunder

Kaum jemand hätte am Ende des Zweiten Weltkriegs gedacht, dass es den Menschen in Westdeutschland wenige Jahre später wieder so gut gehen würde.

Im Mai 1945 lag das Land am Boden. Der Krieg war verloren, viele Städte glichen einer Trümmerwüste. Neuere Forschungen zeigen aber, dass die deutsche Industrie zum großen Teil noch intakt war, trotz der Bombardierung.

In den 1950er-Jahren erlebten die Westdeutschen einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung, der als deutsches Wirtschaftswunder bezeichnet wird. Innerhalb eines Jahrzehnts verdreifachte sich die Wirtschaftsleistung, die Autoindustrie verfünffachte sogar ihre Produktion. Die Geschäfte waren wieder gefüllt, der Wohlstand nahm zu, eine "Fresswelle" rollte durch das Land.

Der Kabarettist Wolfgang Neuss sang 1958 in einem Lied: "Jetzt kommt das Wirtschaftswunder! Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder…"

Eine Frau vor dem gefüllten Schaufenster eines Feinkostgeschäfts, um 1949

Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg lief die Wirtschaft bereits wieder auf Hochtouren

Wohlstand made in Bonn

Geprägt wurde diese Zeit durch ein wirtschaftliches Konzept, das als "Soziale Marktwirtschaft" in die Geschichte einging. Weil die Regierung ihren Sitz in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn am Rhein hatte, wird diese Form des Kapitalismus' auch "Rheinischer Kapitalismus" genannt.

Eine der Grundideen: Der Reichtum, der durch den wirtschaftlichen Aufschwung erzeugt wird, soll der gesamten Bevölkerung zugute kommen und nicht nur einer kleinen Schicht. Durch angemessene Steuern leisten die Reichen ihren Anteil am Wohlstand des Landes, steigende Löhne lassen den Lebensstandard der Bevölkerung weiter steigen.

Gleichzeitig schützt ein Netz von Sozialleistungen Alte, Kranke und Arbeitslose vor finanzieller Not. Diese Form des Kapitalismus wird auch als "sozial gebändigter" Kapitalismus bezeichnet, der durch den ordnungspolitischen Rahmen des Staates geregelt, also reguliert wird.

Jahrzehntelang war diese Wirtschaftsform als Erfolgsmodell der Bundesrepublik Deutschland weltweit anerkannt.

Ehemaliges Regierungsviertel in Bonn

Die Grundlagen des "Rheinischen Kapitalismus" wurden in Bonn am Rhein gelegt

Ludwig Erhard – sittliche Verantwortung

Als Vater dieser Form eines sozial ausgewogenen Kapitalismus' gilt der CDU-Politiker Ludwig Erhard, der von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister war. Im Jahre 1957 veröffentlichte er das Buch "Wohlstand für alle". Darin entwarf er sein Programm einer Sozialen Marktwirtschaft, das sowohl den freien Wettbewerb der Wirtschaft, als auch soziale Gerechtigkeit garantieren sollte.

Für Erhard war es wichtig, die Bildung von Monopolen zu verhindern. Nur wenn es keine übermäßige Machtkonzentration in der Wirtschaft gebe, könne ein fairer Wettbewerb am Markt funktionieren. Außerdem appellierte er an die Unternehmer, sich nicht um jeden Preis zu bereichern, sondern immer das Gemeinwohl im Blick zu haben:

"Der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft liegt darin, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden", schrieb er damals.

Ludwig Erhard liest in seinem eigenen Buch

Ludwig Erhard gilt als Vater der Sozialen Marktwirtschaft

Faulenzen in der sozialen Hängematte?

Als Ludwig Erhard Wirtschaftsminister war, befand sich die Bundesrepublik Deutschland in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Doch ab Mitte der 1960er-Jahre bekam sein Modell erste Risse. Die Wirtschaft geriet ins Stottern und erstmals wurden Menschen arbeitslos. Der Slogan "Wohlstand für alle" verlor seine Grundlage.

Während der Amtszeiten der SPD-Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt von 1969 bis 1982 gab es erste Wirtschaftskrisen. Dies führte dazu, dass der Staat stärker in die Wirtschaft eingriff, zum Beispiel durch Konjunkturpakete, um die steigende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Außerdem wurden soziale Leistungen verstärkt. Dahinter stand die Idee, dass die Menschen mehr kaufen, wenn sie finanziell abgesichert sind, und dadurch die Wirtschaft ankurbeln.

Mit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU) ging der Trend ab 1982 wieder in eine andere Richtung. Der Staat habe sich finanziell übernommen, hieß es damals. Die "soziale Hängematte" habe viele Menschen zum Faulenzen angeregt, da sie sich zu sehr darauf verlassen hätten, dass der Staat sie versorgt, wenn sie arbeitslos werden.

Im Jahr 2003 beschloss der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit seiner "Agenda 2010" einen radikalen Umbau des deutschen Sozialstaats. Er schränkte staatliche Sozialleistungen ein und flexibilisierte den Arbeitsmarkt. Die Menschen sollten auch Jobs annehmen, bei denen sie schlechter bezahlt würden als vorher.

Diese Wirtschaftspolitik wird auch "neoliberal" genannt. Kritiker werfen Schröder vor, er habe damit das Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das auf dem Rheinischen Kapitalismus beruht, ausgehöhlt und die soziale Ungleichheit verschärft.

Menschenschlange vor dem Arbeitsamt, 1981

In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es keinen "Wohlstand für alle" mehr

(Erstveröffentlichung 2020. Letzte Aktualisierung 08.09.2020)

Quelle: WDR

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