Kanada
Die Provinz Québec – der französische Sonderweg
Zwei Amtssprachen sind für ein riesiges Land wie Kanada nichts Ungewöhnliches. Doch mit welcher Vehemenz sich die französischsprachigen Kanadier in der Provinz Québec von der englischsprachigen Bevölkerung im Rest Kanadas abgrenzen wollen, ist schon bemerkenswert. Die Wurzeln dieses Konfliktes liegen schon weit zurück.
Von Tobias Aufmkolk
Erste Landnahmen durch Frankreich
Schon kurz nach den ersten Eroberungsfahrten von Christoph Kolumbus trifft der Seefahrer John Cabot 1497 auf die Küste Nordkanadas. Er glaubt zunächst Nordchina erreicht zu haben und ist maßlos enttäuscht, als er merkt, dass er auf noch unberührtes Land getroffen ist. Doch seine Berichte von dem Fischreichtum vor der Küste Kanadas finden in Europa Beachtung.
Englische, bretonische, portugiesische und spanische Fischereiflotten kommen in der Folgezeit an die Küsten Kanadas, um die reichen Fanggründe des Kabeljaus zu erschließen. Siedlungsspuren hinterlassen sie jedoch nicht.
Erst der Franzose Jaques Cartier zeigt mehr Interesse an dem Land. Auf seinen drei Fahrten von 1534 bis 1542 stößt er tief in den St.-Lorenz-Golf und den gleichnamigen Flusslauf vor. Er nimmt das Land, das er entdeckt, für den französischen König in Besitz und erklärt es zur Kolonie Frankreichs.
Jaques Cartier dringt weit in den St. Lorenz-Strom vor
Friedliches Nebeneinander
Cartier ist zunächst enttäuscht von dem neuen Kontinent. Wertvolle Güter und Rohstoffe, die alle Kolonialmächte jenseits des Atlantiks zu finden hoffen, sind nicht vorhanden. Er unterhält jedoch gute Kontakte zu Eingeborenenstämmen, mit denen er bald wertvolle Pelze tauschen kann.
In den nächsten Jahrzehnten bauen die Franzosen den Pelzhandel systematisch aus. Den Briten bleibt das lukrative Geschäft natürlich nicht verborgen. 1583 nimmt Sir Humphrey Gilbert die Insel Neufundland in Besitz, doch es dauert noch 27 Jahre bis sich dort die erste britische Siedlungskolonie bildet.
Die Franzosen konzentrieren sich dagegen auf das Gebiet weiter südlich. 1603 führt der "Königliche Geograph" Samuel de Champlain eine Expedition durch, die den St.-Lorenz-Strom weiter erschließen soll. Er gründet 1608 die Stadt Québec, nennt das gesamte Gebiet "Nouvelle France" und verleibt es als Übersee-Kolonie dem französischen Königreich ein.
1608 gründet de Champlain die Stadt Québec
Mehr und mehr Bauern werden angesiedelt. Sie sollen neben dem florierenden Pelzhandel auch Ackerbau und Viehzucht etablieren.
Die Briten konzentrieren sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf die Landnahme. Zwischen 1576 und 1631 versuchen sie in verschiedenen Expeditionen von Nordkanada aus einen Seeweg nach Asien zu finden.
Erst als alle Versuche an den undurchdringlichen Eisbarrieren scheitern, widmet sich das Empire vermehrt dem Pelzhandel und der Erkundung des Kontinents. Konflikte mit den weiter südlich siedelnden Franzosen scheinen programmiert.
Der Pelzhandel ist äußerst lukrativ
Kanada wird britisch
1670 gründen englische Kaufleute die "Hudson's Bay Company (HBC)". Im gleichen Jahr dringen sie in die gleichnamige Bucht vor, erhalten vom König die Privilegien des Pelzhandels, der Jagd sowie das Monopol des Verkehrs durch die Hudson-Straße.
Vom Stützpunkt Fort Nelson kontrollieren die Briten nun knapp vier Millionen Quadratkilometer Fläche. Zu einer direkten Konfrontation der beiden Kolonialmächte kommt es jedoch noch nicht, zu weit liegen die Gebiete auseinander.
In den folgenden Jahrzehnten versuchen beide Nationen, durch Erkundungsfahrten in den mittleren Westen Kanadas ihr Einflussgebiet auszuweiten. Es kommt zu ersten Scharmützeln und kriegerischen Handlungen zwischen Briten und Franzosen.
In Europa wird dagegen von 1690 bis 1713 immer wieder offen Krieg zwischen England und Frankreich geführt. Auch die Kolonialgebiete sind von diesen Kriegen betroffen. Im Frieden von Utrecht müssen die Franzosen 1713 bereits Teile ihres kanadischen Territoriums an England abtreten. Französische Siedler werden in der Folgezeit aus ihren Gebieten ausgewiesen.
Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es in Europa zum Siebenjährigen Krieg (1756-1763) zwischen Frankreich und England. Britische Truppen erobern während des Krieges auch die Städte Montréal und Québec.
Im Frieden von Paris muss das unterlegene Frankreich 1763 alle Kolonien an England abtreten. Auch die französische Kolonie "Nouvelle France" in Kanada wird in diesem Zuge dem britischen Imperium einverleibt.
Unterschiedliche Entwicklungen
Rund 70.000 Franzosen leben 1763 in Kanada, vornehmlich konzentriert auf das alte Kolonialgebiet am St. Lorenz-Golf. Um Aufstände zu vermeiden und die große Zahl der französischen Siedler nicht gegen sich aufzubringen, führen die Briten kaum politische Veränderungen durch.
In der "Québec-Akte" von 1774 lassen sie die Besitz- und Rechtsverhältnisse der Franzosen bestehen, erlauben den Gebrauch des Französischen, die freie Religionsausübung der überwiegend katholischen Bevölkerung und die Beibehaltung jeglicher kultureller Traditionen. Die Folge ist, dass kaum Franzosen aus der Kolonie auswandern.
1791 teilen die Briten dann die alte Provinz Québec in die vornehmlich englischsprachige Provinz "Upper Canada" (das heutige Ontario) und die französisch geprägte Provinz "Lower Canada" (das heutige Quebéc). Diese Teilung begünstigt in großem Maße die ethnische Eigenentwicklung der französischen Bevölkerung.
In den folgenden Jahrhunderten entwickeln sich die beiden Bevölkerungsteile höchst unterschiedlich. Auf der einen Seite die reformorientierten, liberalen und nach vorne schauenden Briten, auf der anderen Seite die auf alte Traditionen setzenden, modernisierungsfeindlichen Franzosen.
Während die britischen Bevölkerungsteile selbstbewusst den Staat Kanada aufbauen, blockiert die französische Bevölkerung jegliche Reformmaßnahmen. Ein wichtiger Motor der französischen Geisteshaltung ist die katholische Kirche, die in extrem konservativer Weise den ländlich geprägten, antiliberalen Lebensstil aufrecht erhält.
Die Folge ist eine politische und ökonomische Ausgrenzung der französischsprachigen Bevölkerung. Ihr nach innen geprägter Nationalismus ist einzig auf das Überleben und die Abgrenzung zur englischsprachigen Bevölkerung ausgerichtet.
Ein neues Selbstbewusstsein
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ändert sich die Haltung der französischsprachigen Bevölkerung. Der nach innen gerichtete Nationalismus scheint überholt, die weltfremde und politikfeindliche Haltung passé.
Konzepte wie die sogenannte "Rache aus der Wiege", eine gewollte Geburtensteigerungsrate, hatten in der Vergangenheit nicht gegriffen. Die Einwohnerzahl der Franzosen stieg zwar gegenüber der britischen Bevölkerung viel stärker an, politische oder ökonomische Auswirkungen blieben aber aus.
1960 wird mit Jean Lesage ein liberaler, reformorientierter Politiker an die Spitze des Provinzparlamentes gewählt. Er leitet in der Folgezeit Reformen ein, die auch als "Stille Revolution" bezeichnet werden. Mit Nachdruck stellt er die Forderung nach der "Eigenständigkeit der Frankophonen".
Lesage fördert gezielt die politische und wirtschaftliche Emanzipation der Frankokanadier und erreicht, dass Französisch als zweite offizielle Amtssprache Kanadas anerkannt wird. Mit Symbolen wie einer eigenen Flagge und einem Nationalfeiertag stärkt er das Selbstbewusstsein der Bevölkerung. Zum ersten Mal in der Geschichte tragen die Frankokanadier ihren Nationalismus nach außen.
Jean Lesage förderte die Emanzipation der Frankokanadier
Französisierung und Unabhängigkeitsbestrebungen
In der Folgezeit werden die Stimmen in Québec nach einer Loslösung vom kanadischen Staat immer lauter. Mitte der 1960er-Jahre macht eine Separatistenorganisation durch Attentate und Bombenanschläge von sich reden.
Während eines Besuches der englischen Königin 1964 kommt es zu schweren Straßenschlachten. Als auch noch der französische Präsident Charles de Gaulle 1967 in Montréal ein "freies Québec" fordert, bekommen die Souveränitätsbestrebungen neue Nahrung.
Charles de Gaulle unterstützte 1967 die Unabhängigkeitsbestrebungen Québecs
In den 1970er-Jahren werden Gesetze erlassen, die den englischen Sprachgebrauch stark einschränken und das Französische zur verbindlichen Amtssprache machen. Das "Büro für die französische Sprache" sorgt dazu für eine systematische Französisierung.
1980 findet zum ersten Mal ein Referendum statt, das über eine Loslösung von Kanada entscheiden soll. 60 Prozent der Frankokanadier stimmen für einen Verbleib im kanadischen Staat. Bei einem weiteren Referendum 15 Jahre später ist das Ergebnis schon deutlich knapper. Nur 50,6 Prozent der Bevölkerung sprechen sich pro Kanada und gegen einen eigenen Staat aus.
Dieses Ergebnis zeigt, wie zerbrechlich das vermeintlich so starke kanadische Staatsgebilde ist. Falls Québec wirklich einmal eigenständig werden sollte, haben bereits andere Bundesstaaten wie Britisch-Kolumbien, Alberta oder Neufundland ähnliche Absichten geäußert. Dies kann sich der kanadische Staat in keinem Fall leisten, da er sonst auseinanderbrechen würde.
Auch aus diesem Grund geht die konservative kanadische Regierung am 27. November 2006 einen entscheidenden Schritt auf die Frankokanadier zu: Sie erklärt die Provinz Québec zu einer "Nation innerhalb Kanadas". Den Unabhängigkeitsbestrebungen Québecs erteilt die Regierung in der Hauptstadt Ottawa aber weiterhin eine klare Absage.
Kanada und Québec – auf ewig zusammen?
(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 29.06.2021)
Quelle: WDR