Die Schatzsucher finden keine Ruhe
Zahlreiche Legenden ranken sich um das Bernsteinzimmer, das die Preußen 1716 dem russischen Zaren Peter I., auch Peter der Große genannt, zum Geschenk machten.
Das "achte Weltwunder" hat bis heute von seiner Anziehungskraft nichts verloren. Im Gegenteil: Seine Unauffindbarkeit scheint die Fantasie der Menschen noch zu beflügeln. Dabei ist es nahezu unmöglich, sich ein sachliches Bild vom Verbleib des alten Bernsteinzimmers zu verschaffen.
Die prachtvolle Rekonstruktion, die seit 2003 wieder den Katharinenpalast im ehemaligen Zarskoje Selo (heute Puschkin) ziert, tut der abenteuerlichen Suche nach dem Original keinen Abbruch.
Bis heute gibt es zahlreiche selbst ernannte Schatzsucher mit noch zahlreicheren Theorien und Spuren. Heerscharen von Journalisten, Amateurhistorikern, Filmemachern, Privatdetektiven, Politikern und Kunstexperten forschen seit Jahrzehnten.
Eine Flut von internationalen Zeitungsartikeln, Büchern, Dokumentationen und Filmen überrollt eine immer verwirrtere, aber durchaus neugierige Öffentlichkeit.
Dabei ist die Vehemenz der vorgetragenen Thesen oft der einzige Verbindungspunkt der teils sehr unterschiedlichen, bisweilen abenteuerlichen Theorien. Jeder Bernsteinzimmersucher glaubt, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Doch ist hinter dem lauten Getöse nur eines zu erkennen: Niemand hält wirklich alle Puzzleteile des Geschehens in der Hand.
Drei Fakten und vier Thesen
Die Ausgangslage jeder Suche nach dem alten Bernsteinzimmer lässt sich grundsätzlich auf drei zentrale und gesicherte Fakten stützen:
- Das Bernsteinzimmer wurde im Herbst 1941 in der von der Wehrmacht umkämpften Stadt Puschkin demontiert und ins Deutsche Reich nach Königsberg gebracht.
- Das Bernsteinzimmer wurde kurzzeitig im Königsberger Schloss wieder aufgebaut und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 1944 verpackte man es wegen zu erwartender Kämpfe erneut in Kisten und lagerte es in den unteren Kellergewölben des Schlosses, die als bombensicher galten.
- Das Königsberger Schloss wurde im Lauf der britischen Luftangriffe und der Eroberung durch die Rote Armee 1944/45 zerstört.
Aus diesen drei Fakten lassen sich vier Thesen ableiten, auf denen jede weitere Bernsteinzimmertheorie fußt.
- Das Bernsteinzimmer hat Königsberg nie verlassen und wurde dort bei den verheerenden Luftangriffen zerstört.
- Das Bernsteinzimmer hat Königsberg nie verlassen und wurde dort versteckt.
- Das Bernsteinzimmer hat Königsberg verlassen und wurde auf seiner Odyssee zu Lande oder zu Wasser zerstört.
- Das Bernsteinzimmer hat Königsberg verlassen und wurde außerhalb von Königsberg versteckt.
Jede Erkenntnis, die auf eine der vier Thesen zurückzuführen ist, ist Wunschdenken und lässt sich in letzter Konsequenz bis heute nicht beweisen.
Natürlich gibt es zwischen den einzelnen Theorien riesige Unterschiede. Während einige ans Absurde grenzen, versuchen andere, streng nach der lückenhaften Quellenlage zu argumentieren.
Doch längst ist der Weg das Ziel geworden: Die menschliche Energie, der enorme Aufwand an Material, Arbeitskräften und finanziellen Ressourcen gleich mehrerer Nationen, die in die Suche nach dem "achten Weltwunder" investiert worden sind, übersteigt längst den tatsächlichen Wert des alten Bernsteinzimmers.
Ein preußisch-russisches Kunstwerk
Ursprünglich wurde das Zimmer 1701 vom preußischen König Friedrich I. für Schloss Charlottenburg in Berlin in Auftrag gegeben. Die Preußen waren aufgrund der natürlichen Bernsteinvorkommen auf ihrem Territorium wahre Meister der Bernsteinschnitzerei.
Damals glaubte man außerdem, Bernstein sei ein besonderer Edelstein. Dass es sich dabei lediglich um ein fossiles Harz handelte, fanden russische Naturwissenschaftler erst rund 200 Jahre später heraus.
Obwohl die honiggelben bis braunen Wandvertäfelungen als kostbar und glanzvoll galten, war die damalige Bedeutung des Bernsteinzimmers weit geringer als heute.
1716 schenkte Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., Sohn von Friedrich I., das Bernsteinzimmer dem russischen Zaren Peter I.. Im Austausch erhielt der König, der eine skurrile Vorliebe für hoch gewachsene Soldaten hatte, insgesamt 248 große russische Männer für seine Leibgarde der "Langen Kerls".
Das Bernsteinzimmer wurde in 18 Kisten verpackt und nach St. Petersburg verschickt, wo es zunächst in einem Wirtschaftsgebäude beim Sommerpalais aufgestellt wurde.
Wenig später lagerte man es in der Kunstkammer ein. Erst mit der Thronbesteigung der Zarentochter Elisabeth I. wurde das Bernsteinzimmer 1741 dort hervorgeholt und im Winterpalais von St. Petersburg zusammen mit aufwändigen Spiegelelementen wieder aufgebaut.
Ab 1741 beherbergte der Winterpalast das Bernsteinzimmer
Ausbau unter Katharina der Großen
1745 ließ Friedrich der Große, Sohn von Friedrich Wilhelm I., der Zarin einen noch fehlenden, reich geschnitzten Rahmen aus baltischem Bernstein zukommen. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia schickte aus politischen Gründen vier kostbare florentinische Steinmosaiken.
Elisabeth I. nutzte das Bernsteinzimmer nach seiner Fertigstellung als Empfangssaal. Als man erkannte, dass die Luft im Winterpalais dem Bernsteinmaterial schadete, entschloss sich die Zarin 1755, das Bernsteinkabinett in den neu erbauten Sommerpalast von Zarskoje Selo vor den Toren von St. Petersburg zu verlegen.
Die kostbaren Teile des Zimmers wurden von 76 Gardesoldaten zu Fuß von St. Petersburg zur neuen Residenz getragen. Für die Strecke von rund 25 Kilometern brauchten die Männer sechs Tage.
Doch der vorgesehene, rund 100 Quadratmeter umfassende Saal erwies sich für die Bernsteinvertäfelungen als zu groß. Durch geschickte Bemalung der Stuckdecke, die die Farbe des Bernsteins nachahmte, und die Anfertigung von Bernsteinsockeln unter den Spiegelwänden wurde das Bernsteinzimmer der neuen Räumlichkeit angepasst.
Sein endgültiges Aussehen erhielt das Bernsteinzimmer schließlich unter der deutschstämmigen Zarin Katharina II., auch Katharina die Große genannt. Ab 1763 ließ sie die bernsteinfarbenen Deckengemälde durch echte Bernsteinschnitzereien ersetzen.
450 Kilogramm Bernstein wurden zusätzlich verarbeitet. Außerdem wurde das Zimmer um Kommoden und Kunstgegenstände polnischer und russischer Bernsteinschnitzer erweitert.
Doch die hohen Temperaturschwankungen und die Trockenluft der Ofenheizung im Schloss machten aus dem Bernsteinzimmer einen Dauersanierungsfall: Immer wieder musste es aufwändig restauriert und gepflegt werden.
Raub und Zerstörung
Die für 1941 vorgesehene Generalüberholung und Restaurierung des Bernsteinzimmers konnte nie in die Tat umgesetzt werden. Am 22. Juni 1941 überfielen Hitlers Truppen die Sowjetunion.
Schon bald geriet der Katharinenpalast vor dem belagerten Leningrad zwischen die Fronten. Um den zerbrechlichen Bernstein so gut wie möglich zu schützen, wurden die Paneele nicht demontiert, sondern lediglich mit festen Papierbahnen abgedeckt, die Fenster verschloss man mit Holzplatten.
Die im Heer mitziehenden "Kunstschutz-Offiziere", die für den Kunstraub in den eroberten Ostgebieten zuständig waren, konnten jedoch dem Vandalismus der Wehrmachtssoldaten nicht sofort Einhalt gebieten.
Einige brachen sich mit ihren Gewehrkolben Stukkaturen und ganze Stücke aus den Bernsteinverkleidungen heraus. Eines der kunstvollen Steinmosaike wurde von den Soldaten sogar ganz entwendet.
Schließlich demontierte man unter Aufsicht des Rittmeisters und Kunstschutz-Offiziers Ernst-Otto Graf zu Solms-Laubach das Bernsteinzimmer und brachte es in Kisten verpackt nach Königsberg. Dies war sein letzter beweisbarer Aufenthaltsort.
Dr. Alfred Rohde, Direktor des Königsberger Schlosses und der Kunstsammlungen der Stadt Königsberg, stellte im dritten Stock im Südflügel des Schlosses einen Raum für das Bernsteinzimmer zur Verfügung. Zwei Jahre lang war es für die Öffentlichkeit zugänglich.
Im August 1944 wurde das bisher verschonte Königsberg in zwei Nächten von britischen Bombern in Schutt und Asche gelegt. Auch das Schloss brannte bis auf die Grundmauern nieder.
In weiser Voraussicht hatte Rohde das Bernsteinzimmer schon Monate vorher demontieren und in einem bombensicheren Kellergewölbe des Schlosses lagern lassen. 1945 wurde Königsberg schließlich von der Roten Armee erobert.
Wurde das Zimmer zusammen mit dem Königsberger Schloss zerstört?
Wo ist das Bernsteinzimmer?
Das in Kisten verpackte Bernsteinzimmer wurde nach 1945 nie wieder gesehen. Die Rote Armee suchte zwar gezielt nach geraubten Kunstschätzen, wusste von der Existenz des Bernsteinzimmers zunächst jedoch nichts.
Zu etlichen im Schloss eingelagerten Kunstschätzen gab Rohde Hinweise, doch zum Verbleib des Bernsteinzimmers schwieg er. Im Dezember 1945 starb er an durch Hunger verursachten Typhus.
1967 wurden die Überreste des Königsberger Schlosses auf Beschluss der Moskauer Regierung gesprengt und das Gelände eingeebnet. Der Legendenbildung um das Bernsteinzimmer waren nun Tür und Tor geöffnet. Im Westen wie im Osten brachen Experten, Fanatiker und Glücksritter zur nicht enden wollenden Bernsteinzimmersuche auf.
Die Suche nimmt kein Ende
Maurice Philip Remy, Dokumentarfilmproduzent und Bernsteinzimmersucher, ist felsenfest davon überzeugt, dass das Bernsteinzimmer im Inferno der letzten Tage von Königsberg verbrannte.
Remy verweist auf das Tagebuch des sowjetischen Leiters der Kunstexpertenkommission, Victor Barsow (ein Pseudonym von Dr. Alexander Jakowlewitsch Brjussow, Professor der Archäologie am Historischen Museum in Moskau).
Dieser will im Keller des Südflügels verkohlte Reste mit Scharnieren und weiteren unbrennbaren Überbleibseln des Bernsteinzimmers ausgemacht haben, wie es in einem Eintrag vom 12. Juni 1945 heißt. Doch Jahre später revidierte Brjussow seine Aussage. Warum hielt er es plötzlich für möglich, dass das Bernsteinzimmer den Krieg unbeschadet in einem der Bunkersysteme Königsbergs überstanden haben könnte?
Gibt es das Original noch?
Sollte es, wie der Buchautor und Bernsteinzimmersucher Heinz Schön vermutet, Königsberg also doch nie verlassen haben? Sollte es unzerstört irgendwo im unterirdischen Gewölbesystem des alten Schlosses lagern?
Heinz Schön, der zuvor erfolglos auf dem Grund der Ostsee im Wrack der untergegangenen "Wilhelm Gustloff" suchte, deren Versenkung er selbst überlebt hatte, gewann sogar das Magazin "Spiegel" für seine Theorie.
Die im Auftrag des Nachrichtenmagazins durchgeführten punktuellen Grabungen auf dem ehemaligen Schlossgelände in Königsberg (heute Kaliningrad) verliefen jedoch ohne Ergebnis.
Schatzjagd bis in den Ruin
Viele weitere Schatzsucher haben sich auf die Jagd nach dem legendären Zimmer begeben. Georg Stein ist die wahrscheinlich tragischste Figur unter den Bernsteinzimmerjägern. Er widmete sein ganzes Leben der Suche und brachte dabei sich und seine Familie an den Rand des Ruins, bis er sich 1987 geistig verwirrt und völlig verzweifelt das Leben nahm.
Immer wieder dicht dran glaubte sich auch der Staatssicherheitsdienst der DDR. Sein berühmtester Bernsteinzimmerfahnder, Oberstleutnant Dr. Paul Enke, untersuchte mehr als 150 vermeintliche Verstecke auf dem Territorium der damaligen DDR, was dem Staat Kosten in Millionenhöhe bescherte.
Hans Stadelmann dagegen forschte in thüringischen Katakomben bei Weimar nach dem Bernsteinzimmer. Der Privatdetektiv Dietmar Reimann ist sich sicher, das Bernsteinkabinett im Poppenwald im Erzgebirge geortet zu haben.
Bürgermeister Heinz-Peter Haustein vermutet das Bernsteinzimmer ebenfalls im Erzgebirge, allerdings im Fortunastollen zu Deutschneudorf. Der Autor Günter Wermusch will bei der Recherche einen Piloten der Wehrmacht ausfindig gemacht haben, der nach eigener Aussage die Kisten mit dem Zimmer auf die Halbinsel Wustow an der Wismarbucht geflogen hat.
Versteckt im Sand der Kurischen Nehrung?
Eine weitere Spur führt nach Litauen an die Ostsee. Bernd-Siegfried Stragies vermutet, Gauleiter Erich Koch habe die Kisten in den Dünen der Kurischen Nehrung versteckt.
Koch besaß in Schwarzort, dem heutigen Jodkrante, ein Ferienhaus, wohin er Stragies Theorie zufolge die Kisten mitnahm. Die Dünen dort sind die höchsten Europas, auf lange Sicht also ein gutes Versteck.
Quelle: SWR | Stand: 30.03.2020, 12:10 Uhr