Ein kostbarer Stoff aus China
Es soll die chinesische Kaiserin Se-ling-schi gewesen sein, die im 3. Jahrtausend vor Christus Seidenkokons in ihrem Garten entdeckte. Sie soll auch herausgefunden haben, wie man Raupen züchtet und aus den Kokons Fäden spinnt.
Se-ling-schi wurde zur Schutzherrin der Seidenraupe und bald sogar als deren Göttin verehrt. Bis ins 6. Jahrhundert nach Christus blieb die Seidengewinnung ein wohl gehütetes chinesisches Geheimnis. Das machte die Seide im fernen Europa besonders kostbar und begehrenswert.
Um 100 vor Christus waren die Chinesen kaum an Fremden interessiert. Umgekehrt sah das anders aus. Vor allem chinesische Luxusgüter wie Seidengewänder interessierten die Fremden. Damit entstand der erste Handelsweg zwischen China und Europa: die Seidenstraße.
Dieser 10.000 Kilometer lange Karawanenweg führte durch chinesische Salzsümpfe, durch Steinwüsten und wandernde Sandberge. Am nördlichen Himalaja vorbei Richtung Kaspisches Meer oder Schwarzes Meer ging es weiter nach Byzanz. Von dort war der Weg nach Rom nicht mehr weit.
Die Seidenstraße führt durch unwirtliche Gegenden
Die Muschelseide der Antike
Auf der griechischen Insel Kos gab es das sogenannte "coische Gewebe", ein Seidengewebe. Der griechische Philosoph Aristoteles berichtete um 350 vor Christus davon. Aber er ahnte nicht, dass die Chinaseide ebenso aus dem Sekret einer Raupe entsteht wie die Seide der Insel Kos, die er beschrieb. Die chinesische Seide war viel feiner. Deshalb glaubte man, dass sie eine Art Flaum sei, der auf Bäumen wächst.
Byssus hieß die Seide der Römer. Es war die Seide einer spinnenden Steckmuschel aus dem Mittelmeer. Viel seidenen Faden gab sie nicht her. Gewänder konnte man daraus nicht machen, nur Verzierungen. Muschelseide war rar und daher sehr kostbar.
Muschelseide von der Steckmuschel reichte nur für Verzierungen
Vor rund 2000 Jahren gönnten sich daher die Bürger den Luxus, chinesische Seide zu tragen. Ein Kilogramm Seide musste mit einem Kilogramm Gold aufgewogen werden. Das machte nicht nur die Chinesen reich, sondern auch die unzähligen Zwischenhändler an der Seidenstraße.
Chinas Geheimnis erreicht Europa
Um 200 nach Christus erreichte die chinesische Seidenverarbeitung ihr höchstes Niveau. Neben gewöhnlichen Seidenstoffen gab es transparente Gaze, Damast- und Brokatstoffe. Aufwändig auch das Dekor: Seidenstickereien und Malereien. Manches Muster hatte über 20 verschiedene Farbtöne.
Als die chinesische Kaisertochter den Fürsten von Kothan heiratete, wollte sie dort nicht auf seidene Gewänder verzichten, heißt es. So habe sie in ihrer Frisur Maulbeerbaumsamen und die Eier des Seidenspinners geschmuggelt.
Sogar aufwändige Gemälde stellten die Chniesen auf Seide her
3000 Jahre lang war die Seidenzucht ein wohlgehütetes chinesisches Geheimnis geblieben. Von Kothan aus verbreiteten sich jetzt die Kenntnisse darüber in alle Richtungen – zuerst nach Japan und Indien.
Es gibt viele Geschichten darüber, wie die Seidenraupe nach Europa gelangt ist. Die bekannteste ist, dass zwei Mönche im Jahr 522 nach Byzanz gewandert seien und Maulbeerbaumsamen sowie die Eier des Seidenspinners in ihren Spazierstöcken geschmuggelt haben. Damit soll die Seidenraupenzucht im Mittelmeerraum begonnen haben.
Das chinesische Monopol der Seidenherstellung war zwar gebrochen, aber die Qualität der Chinaseide war noch lange Zeit unübertroffen.
Europäische Seidenmetropolen
Als man in Byzanz wusste, wie die Chinesen Seide herstellten, konnten es auch bald die Griechen und die Araber. Die Araber gründeten ihre Werkstätten im 8. Jahrhundert in Spanien. So waren auch die Spanier eingeweiht. Von den Arabern erfuhren es um 950 nach Christus auch die Italiener.
In Palermo wurde die erste Werkstatt für Seidenstoffe und Seidengewänder gegründet. Die nächsten Seidenzentren waren in Lucca und Venedig. Dann Florenz, Genua, Pisa und Bologna. Das Geschäft mit der Seide blühte. Bis ins 16. Jahrhundert blieb Italien führend in der Seidenproduktion. Die Italiener entwarfen die schönsten und aufwändigsten Muster.
Anfangs importierten die Franzosen die italienische Seide. Der wichtigste Umschlagplatz war Lyon. Die Nachfrage nach Seide stieg aber immer mehr an. Da ließ Louis XI. im Jahre 1470 eine eigene Seidenproduktion aufbauen. Rohseide wurde importiert und italienische Weber mit lukrativen Angeboten nach Frankreich gelockt.
Eigene Webmuster gab es nicht, man kopierte die italienischen. Das änderte sich, als das Musterweben mit einem verbesserten Webstuhl leichter wurde. Damit erlebte die französische Seidenproduktion einen riesigen Aufschwung.
Lyon mauserte sich zum Zentrum der französischen Seidenproduktion
Der Aufschwung der Chemieindustrie
Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die italienische und die französische Seidenproduktion einen schweren Rückschlag hinnehmen: Ab 1854 vernichtete die sogenannte Fleckenkrankheit die Seidenraupen in ganz Europa. Ein Mittel dagegen gab es nicht.
Der französische Bakteriologe Louis Pasteur forderte, alle Tiere zu töten. Dann solle man gesunde Tiere aus Asien holen und damit neu züchten. Zukünftig solle man vor allem auf eine bessere Hygiene achten. Das war die einzige Lösung, aber sie ruinierte viele Betriebe.
Zur gleichen Zeit erfuhr dagegen eine andere Industrie durch die Lyoner Seidenfärber den entscheidenden Anstoß: Bis zu dieser Zeit färbte man hauptsächlich mit Pflanzenfarben. Als 1856 der junge Engländer William Henry Perkins den ersten synthetischen Anilin-Farbstoff herstellte, wollte den im konservativen England keiner haben. Die Lyoner Seidenfärber aber waren begeistert. Der violette Farbstoff "Mauvein" wurde um 1860 zur Modefarbe.
Es begann ein Ansturm auf neue Anilin-Farben. Farbenfabriken wurden gegründet: die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF), die Farbwerke Höchst, die Aktiengesellschaft für Anilinfarben-Fabrikation AGFA. In der Schweiz gründete der Seidenweber Alexander Clável das Chemiewerk CIBA. Somit trugen die Seidenfärber entscheidend zur Gründung der europäischen Chemieindustrie bei.
Die Seidenfärber begünstigten den Aufschwung der Chemieindustrie
Seide aus deutschen Landen
Auch deutsche Könige und Fürsten gefielen sich in Seide. Sie kauften luxuriöse französische und italienische Seidenstoffe. Friedrich der Große wollte es billiger haben. Er ließ Maulbeerplantagen und Seidenraupen-Zuchtanlagen bauen.
Auch am Rhein wollten sich Kurfürsten in Seide kleiden. Die teuren Importe schwächten die Wirtschaft des Landes. Bei Bacharach und Kaub sollten Tausende von Maulbeerbäumen in die Weinberge gepflanzt werden.
Das Projekt scheiterte, die Winzer wehrten sich: Wenn die Maulbeerbäume in die Weinberge gepflanzt würden, stünden die Trauben im Schatten. Nur in Rüdesheim klappte es 1876 mit der Bepflanzung. Doch die Zucht der Seidenraupen wollte keiner übernehmen – zu mühselig sei die Pflege des "Gewürms".
Ab 1934 gab es in Deutschland Bestrebungen, sich vom Ausland unabhängig zu machen. Die Seidenproduktion wurde wieder aufgenommen. Man brauchte Fallschirmseide für den nahenden Zweiten Weltkrieg. Konkurrenzfähig wurde die deutsche Seidenindustrie allerdings nie.
Fallschirme aus Seide im Zweiten Weltkrieg
(Erstveröffentlichung 2005. Letzte Aktualisierung 16.10.2017)
Quelle: WDR