Das Streben nach Harmonie
Japaner haben ein starkes Bedürfnis nach Harmonie. Nur wenn alles seine feste Ordnung hat, fühlen sie sich wohl. Deswegen gibt es in Japan für nahezu alles geschriebene und ungeschriebene Regeln: Wie verpacke ich ein Geschenk? Wie muss ich mich gegenüber wem verbeugen? Wie serviere ich Tee?
Für solche Fragen der Etikette gibt es im Buchhandel unendlich viele Ratgeber mit hohen Auflagen, auch wenn die Themen in westlichen Augen teilweise absurd scheinen.
Es gibt zum Beispiel mehrere Ratgeber zum "koen-debyuu". Sie geben einer jungen Mutter Tipps zum ersten Parkbesuch mit ihrem Baby, damit sie in die Clique der anderen Mütter aufgenommen wird. Welche Kleidung ist richtig, welche Gesprächsthemen und welche Worte? Alles sollte genau geplant werden.
Schon Japans erste Verfassung, ein Gesetzeswerk aus dem Jahr 604, regelte Fragen der Manieren und der Höflichkeit, um Harmonie herzustellen – damals ausschließlich innerhalb der Oberschicht.
Auch die Kriegerkaste der Samurai, die in Japan lange Zeit regierte, legte hohen Wert auf Etikette. Das sollte die soziale Ordnung aufrechterhalten und somit den eigenen Hierarchie-Rang sichern. Durch Verhalten, Kleidung und Sprache setzten sich die Aristokraten vom einfachen Volk ab.
Die Samurai sicherten ihre Herrschaft durch Etikette
Gemeinschaftssinn über alles
Eng mit dem Streben nach Harmonie verbunden ist das für Japaner typische Bedürfnis, einer Gruppe angehören zu wollen. Ziel ist es, um keinen Preis aufzufallen. Im Kindergarten und später in der sechsjährigen Grundschule ist deswegen die soziale Einordnung die wichtigste Lektion.
Innerhalb von Kindergartengruppen und Schulklassen werden auf Zeit weitere Gruppen gebildet, die relativ willkürlich zusammengestellt werden. Freundschaften werden nicht berücksichtigt. Diese Gruppen machen zum Beispiel zusammen sauber, kümmern sich um das Mittagessen oder lernen gemeinsam.
Über allem steht die Schule als große Gruppe, zu der sich die Schüler zugehörig fühlen sollen. Deswegen tragen sie Schuluniformen und singen bei bestimmten Anlässen das Schullied.
Den Gemeinschaftssinn fördern auch Ferienkurse ("gasshuku"), bei denen es ausnahmsweise nicht um Leistung geht, sondern allein darum, die Gruppe zu stärken.
Gruppe geht vor Individuum
Willkommen in der Prüfungshölle
Im Schulalltag ist der Leistungsdruck dagegen allgegenwärtig. Lehrer und Eltern erwarten, dass das Kind in einer großen Firma Karriere macht. Das kann nur, wer an einer guten Universität studiert hat. Weil auch die Bildungseinrichtungen – wie fast alles in Japan – in einer hierarchischen Rangfolge geordnet sind, ist der Name der Universität wichtiger als das studierte Fach.
Da die Plätze an diesen Elite-Ausbildungsstätten aber begrenzt sind, gibt es eine Aufnahmeprüfung – bei Weitem nicht die erste, die japanische Schüler absolvieren müssen. Schon Kinder müssen für beliebte Kindergärten eine Prüfung bestehen, weil deren Abgänger mit höherer Wahrscheinlichkeit auf eine gute Grundschule wechseln können.
Spätestens in der Mittelstufe hat die "shiken jigoku", die Prüfungshölle, dann alle fest im Griff. Es heißt vor allem auswendig lernen, um mit den entsprechenden Ergebnissen auf eine gute Oberschule wechseln zu können und von dort auf eine Elite-Universität. Angesichts des immensen Drucks – viele japanische Kinder sind Einzelkinder und die einzige Hoffnung ihrer Eltern – wächst aber auch die Zahl der Schulverweigerer.
Gruppenarbeit in der Firma
Wer die Prüfungshölle der Schulzeit hinter sich hat, darf sich auf ein relativ entspanntes Studium freuen. Danach hat der Absolvent einer Elite-Universität gute Chancen, in die nächste Gruppe aufgenommen zu werden: die große Firma. Dort bleiben viele Mitarbeiter traditionell ihr ganzes Leben lang angestellt. In kleinen Firmen ist dies selten der Fall.
Die neuen Mitarbeiter, die "kohai", werden mit einer feierlichen Aufnahmezeremonie begrüßt und absolvieren danach eine Art Grundausbildung, während der sie alle Abteilungen durchlaufen. So sollen sie den Betrieb und seine Ideologie kennenlernen. Dabei orientieren sich die "kohai" am bewährten Verhalten der "senpai", der älteren Kollegen.
Innerhalb von Abteilungen arbeiten die Mitarbeiter in der Regel ebenfalls in Gruppen zusammen. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Harmonie stimmt. Um die sozialen Kontakte zu pflegen, geht man nach der Arbeit oft miteinander aus.
Mittlerweile achten aber mehr Angestellte als noch in den 1980er- und 1990er-Jahren auf eine ausgewogene Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Denn damals gingen viele Väter an sechs Tagen pro Woche morgens früh aus dem Haus und kehrten erst gegen Mitternacht zurück, sodass sie ihre Kinder nur am Sonntag sahen. In Einzelfällen führte dies sogar zum "karoshi", zum Tod durch Überarbeitung.
Die Bedeutung der Arbeit nimmt ab
Karriere als Frau?
Typischerweise macht in Japan immer noch der Mann Karriere, während die Frau aufhört zu arbeiten, wenn sie heiratet oder wenn das erste Kind unterwegs ist. Obwohl auch viele Frauen studiert haben, stellen die Firmen sie oft nur für leichte Tätigkeiten ein, weil es sich aus ihrer Sicht nicht lohnt, sie einzuarbeiten.
Auch im Sprachgebrauch wird dieser Unterschied der Geschlechter deutlich: Der Angestellte ist der "sarariman" (von Englisch salary = Gehalt), die Angestellte war bis vor kurzem noch das "ofisu garu" (office girl). Heute nennt man sie etwas respektvoller "ofisu redi" (office lady). Natürlich verdient der "sarariman" trotzdem mehr.
Doch auch in Japan nimmt die Gleichberechtigung zu. Doppelverdienerhaushalte sind mittlerweile keine Seltenheit mehr, selbst wenn das teilweise auf die auch in Japan angespannte Finanzlage zurückzuführen ist. Manche Firmen richten mittlerweile sogar Kinderkrippen ein. Mit solchen Angeboten versucht man, den Geburtenrückgang zu stoppen.
Auch in Japan sinkt die durchschnittliche Kinderzahl
Taschengeld für den Ehemann
Schon in der Familie, der ersten Gruppe ihres Lebens, lernen japanische Kinder die Grundregeln des sozialen Zusammenlebens und vor allem der Hierarchie. Ältere Geschwister müssen sie zum Beispiel respektvoller behandeln als jüngere.
In Japan war die Ehe noch in den 1980er- und 1990er-Jahren oft eine reine Zweckgemeinschaft. Da der Vater meist an sechs Tagen pro Woche von früh morgens bis spät abends arbeitete, sahen sich die Eheleute sehr wenig. Wenn der Mann pensioniert wurde, ließen sich viele Paare scheiden, weil dann deutlich wurde, wie wenig man harmonierte.
Auch heute noch werden viele Ehen arrangiert. Dann macht ein Heiratsvermittler einen Vorschlag, den beide Seiten jedoch auch ablehnen können.
Bei Ehen zwischen einer japanischen Frau und einem ausländischen Mann ergibt sich das erste große Problem meist bei der Gehaltsabrechnung: Japanische Frauen sind es gewöhnt, über das komplette Einkommen ihres Mannes zu verfügen, die Konten zu kontrollieren und ihm Taschengeld zu geben. Ein kleiner Teil japanischer Kultur mit großem Streitpotenzial.
Bis dass der Tod sie scheidet?
(Erstveröffentlichung: 2010. Letzte Aktualisierung: 11.03.2021)
Quelle: WDR