Erster Weltkrieg
Wie das Deutsche Reich Russland zur Revolution verhalf
Der Kriegsbeginn löste 1914 auch in Russland Begeisterung aus. Doch bald zeigte sich, dass die russische Armee den Heeren des Deutschen Reichs nicht gewachsen war. Es kam zu verheerenden Verlusten, und das Vertrauen in die Führung des Landes schwand.
Von Frank Drescher
Deutsche Kriegstaktik: "Politik der revolutionären Infektion"
Kriegsmüdigkeit erfasste die Russen. Zugleich litt die Zivilbevölkerung unter den Folgen des Ersten Weltkriegs. Als sich die Versorgungslage an der Heimatfront zunehmend verschlechterte, kam es häufiger zu Streiks und Unruhen. Im Winter 1916/17 erreichte die Krise ihren Höhepunkt: Sie mündete in der Februarrevolution und führte zum Sturz der russischen Monarchie.
Ein politisch instabiles und kriegsmüdes Russland kam den deutschen Kriegsherren gerade recht. Würde diesmal gelingen, was Deutschland mit seinen Kriegsgegnern zuvor schon öfters probiert hatte: den Gegner durch revolutionäre Infektion zu schwächen?
Russische Soldaten auf dem Weg nach Lemberg, 1914
In seinem Buch "Der Große Krieg – die Welt 1914-1918" schildert Planet-Wissen-Studiogast Herfried Münkler, wo überall Deutschlands "Politik der revolutionären Infektion" bereits schiefgegangen war:
- Zum Beispiel im November 1914. Auf Drängen Deutschlands rief das mit ihm verbündete Osmanische Reich den Heiligen Krieg gegen die Entente-Mächte aus. Doch der erhoffte Aufstand der muslimischen Bevölkerung in den Kolonien Frankreichs und vor allem Großbritanniens von Nordafrika bis Indien blieb aus.
- Zum Beispiel Ostern 1916. Als sich die Iren auf ihrer Insel gegen die britische Fremdherrschaft erhoben, wollten die Deutschen ihnen per U-Boot Waffen liefern. Doch die Logistik an der Seeblockade der Briten vorbei, erwies sich als zu kompliziert.
- Zum Beispiel im November 1916. Diesmal wollte Deutschland die Polen gegen Russland in Stellung bringen, indem es sie mit einem unabhängigen Nationalstaat lockte. Denn Polen, das nach der Aufteilung zwischen Preußen, Österreich und Russland 120 Jahre zuvor von der Landkarte verschwunden war, sollte nach deutscher Vorstellung neu entstehen.
Wo aber dessen Grenzen verlaufen sollten und wer sein König sein sollte, blieb unklar. Fest stand nur, dass die polnischen Legionäre, die das Deutsche Reich auf ehemaligem polnischem Gebiet rekrutieren konnte, ihren Eid auch auf den deutschen Kaiser schwören sollten. Doch als der deutsche Militärgouverneur den Legionären das eröffnete, fühlten sie sich nicht ganz ernst genommen und ließen die Sache bleiben.
Auch der Versuch des Deutschen Reichs, nach der russischen Revolution 1916/17 mit den neuen russischen Machthabern einen Separatfrieden auszuhandeln, scheiterte.
Mai 1917: Demonstration in Petrograd
Lenin muss zurück
Eine Destabilisierung Russlands lag aber nicht nur im Interesse des Deutschen Reichs. Auch Wladimir Iljitsch Lenin, der Führer der bolschewistischen Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Gegner der Zarenherrschaft, hoffte durch eine militärische Niederlage Russlands und deren Folgen auf eine Revolution in Russland.
Lenin lebte zur Zeit des politischen Umbruchs in Russland im Exil in der Schweiz. Als 1917 den Exilanten die Nachricht von der Februarrevolution in der Schweiz erreichte, wusste Lenin, dass er schnellstens nach Russland zurückkehren musste. Doch eine Reise durch ein kriegsgeschütteltes Europa nach Russland erschien unmöglich.
Da bekam Lenin von unerwarteter Seite Hilfe für sein Vorhaben. Ausgerechnet die deutsche Reichsregierung – Kriegsgegner der Russen – wollten Lenin und weiteren Revolutionären die Heimreise ermöglichen und die Durchreise durch das Deutsche Reich gewähren. Die Reichsregierung erhoffte sich durch das Einwirken Lenins und anderer Revolutionäre in auf das politische Geschehen, eine weitere Destabilisierung Russlands.
In seinen Erinnerungen schrieb Fritz Platten, der Schweizer Sozialist und Unterhändler Lenins, dass dem Bolschewiken die heikle Situation durchaus bewusst war, Hilfe der Deutschen anzunehmen. In Russland hätte man dies als Verrat auslegen können.
Lenins lange Reise zurück in die Heimat
Am Ostermontag, dem 9. April 1917, bestiegen Lenin und seine Entourage – insgesamt 32 Personen – in Zürich den Zug, der sie nach Petrograd (heute St. Petersburg) bringen sollte. An der schweizerisch-deutschen Grenze mussten die Reisenden in einen Sonderzug der Deutschen Reichsbahn umsteigen. Die Waggons mit den Exilanten wurden vor der Weiterfahrt plombiert.
Platten erinnert sich, dass Lenin – um jeden Anschein von Kumpanei und Kontakt zu Deutschen zu vermeiden – darauf drang, dass sein Teil des Zuges als "exterritorial" zu gelten hatte. Ein simpler Kreidestrich trennte am Ende das russische "Hoheitsgebiet" vom deutschen.
An der Ostseeküste angekommen, ging die Reise weiter per Schiff nach Schweden, von dort weiter mit der Bahn über Finnland nach Petrograd. Eine Woche dauerte die anstrengende Reise für die Exilanten am Ende.
Lenins Ankunft am Finnischen Bahnhof in Petrograd
Lenin und seine Mitstreiter kamen am 16. April 1917 gegen 23 Uhr am Finnischen Bahnhof in Petrograd an. Dort wurden die Reisenden bereits erwartet. Eine große Zahl von Anhängern bereitete den heimkehrenden Exilanten einen jubelnden Empfang.
Lenin, der bei diesem Anlass zum ersten Mal von der "sozialistischen Weltrevolution" sprach, sollte nach seiner Rückkehr in die Heimat maßgeblichen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung Russlands nehmen. Ohne diese Bahnfahrt hätte eines der einschneidendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts womöglich nie stattgefunden: die Oktoberrevolution in Russland.
UNSERE QUELLEN
- Fritz Platten: "Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen" (Erweiterte Neu-Edition einer Broschüre aus dem Jahr 1924)
Quelle: SWR | Stand: 18.01.2022, 12:00 Uhr