Auschwitz
Fritz Bauer
Die Bundesrepublik in den 1950er- und 1960er-Jahren: Es ist die Zeit des Kalten Krieges und des Wiederaufbaus. An den Nationalsozialismus möchte kaum jemand erinnert werden. Doch einige Menschen glauben, dass eine demokratische Zukunft auch die Aufarbeitung der deutschen Geschichte benötigt. Einer von ihnen ist Fritz Bauer, der Ankläger im so genannten Auschwitz-Prozess.
Von Sine Maier-Bode
Jurist und Demokrat
Am 16. Juli 1903 wird Fritz Bauer in Stuttgart geboren. Er studiert in Heidelberg, München und Tübingen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 1930 wird er der jüngste Amtsrichter Deutschlands. 1933 inhaftiert die "Geheime Staatspolizei" (Gestapo) Bauer für mehrere Monate, 1936 muss er aus politischen und religiösen Gründen aus Deutschland fliehen.
In Dänemark und Schweden gehört er zu einem Kreis politisch aktiver Exilanten. Mit Willy Brandt gründet er die "Sozialistische Tribüne", das Organ der sozialdemokratischen Partei im Exil.
Nach Kriegsende holt ihn der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher nach Deutschland. 1950 wird Bauer zum Generalstaatsanwalt von Braunschweig berufen. Zunächst von Braunschweig aus, später als Generalstaatsanwalt von Frankfurt am Main, initiiert Fritz Bauer mehrere bedeutende Verfahren, die sich mit dem Unrechtsstaat der Nazis und seinen Folgen befassen.
Nicht allein die Bestrafung der Angeklagten steht für Bauer im Vordergrund, sondern die Schaffung eines demokratischen Rechtsbewusstseins. Sein letztes Verfahren, das er ab 1965 plant, betrifft die Justiz im Nationalsozialismus. Doch Fritz Bauer stirbt am 1. Juli 1968 im Alter von 64 Jahren. Die Nazi-Justiz wird in der Bundesrepublik anschließend von niemandem mehr zur Rechenschaft gezogen.
Auf feindlichem Terrain
Als Fritz Bauer 1949 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt, ist die deutsche Justiz noch immer durchdrungen von nationalsozialistischem Gedankengut. Die demokratischen Ideale der Weimarer Zeit hatten nur bei wenigen Menschen Früchte getragen.
Fritz Bauer betrachtet es als seine dringlichste Aufgabe, die Demokratie in Deutschland zu stärken. Zu dieser Zeit herrscht die Meinung vor, dass "nun endlich Schluss sein müsse" mit der Verfolgung der Täter des NS-Systems. Bauer hingegen fordert die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte.
Sein erster richtungweisender Prozess findet 1952 in Braunschweig statt: der Remer-Prozess. Otto-Ernst Remer, der als Kommandeur des Wachbataillons dazu beigetragen hatte, dass das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 scheiterte, ist 1952 Redner auf einer Versammlung der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei (SRP).
Öffentlich beschimpft er die Widerstandskämpfer des 20. Juli als Hochverräter. Remer muss sich dafür vor Gericht verantworten. Das Plädoyer, das Fritz Bauer in diesem Prozess hält, macht ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Otto-Ernst Remer
"Die Helden des 20. Juli sind ohne Einschränkung zu rehabilitieren", fordert Fritz Bauer und begründet dies damit, dass der NS-Staat eben kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat gewesen sei. "Und ein Unrechtsstaat ist überhaupt nicht hochverratsfähig".
Eine Urteilsfindung, die in den 1950er-Jahren in Deutschland eine Ausnahme darstellt. Auch in den folgenden Jahren bleibt der überwiegende Teil der deutschen Justiz der Meinung, dass das NS-Rechtssystem zu akzeptieren sei.
Erst ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende hebt der Deutsche Bundestag pauschal die NS-Kriegsgerichtsurteile auf. Am 28. Mai 1998 beendet das "Gesetz über die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege" offiziell eine Rechtsprechung, die jahrzehntelang die Mörder von einst geschont und die Verfolgten und Widerstandskämpfer gewissermaßen zum zweiten Mal verurteilt hat.
Für ein neues Demokratieverständnis
Bauer setzt sich auf vielfältige Weise für ein neues Demokratieverständnis in Deutschland ein. Er engagiert sich für einen humanen Strafvollzug und organisiert zusammen mit Alexander Mitscherlich die Bürgerrechtsbewegung "Humanistische Union". Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Die neue Gesellschaft" und unterstützt junge Juristen bei der Herausgabe der Zeitschrift "Die kritische Justiz".
1959 ermittelt Fritz Bauer gegen Werner Heyde, der während der NS-Zeit maßgeblich an der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderung beteiligt war.
Der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann
1960 wird auf einen Hinweis und das Drängen Fritz Bauers hin Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt. Insbesondere der Eichmann-Prozess in Jerusalem weckt schließlich auch bei vielen Deutschen ein Bedürfnis nach Aufklärung der deutschen Vergangenheit.
Währenddessen steckt Fritz Bauer schon mitten in den Vorbereitungen zum Auschwitz-Prozess, der 18 Jahre nach Kriegsende einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung darstellen wird. Es wird das bis dahin größte Schwurgerichtsverfahren in der deutschen Justizgeschichte.
Die Vorgeschichte des Auschwitz-Prozesses
Dass es überhaupt zu dem Prozess kommt, ist dem Engagement einiger Weniger zu verdanken: Der frühere Auschwitz-Häftling Hermann Langbein erfährt, dass der ehemalige KZ-Aufseher Wilhelm Boger in Deutschland lebt. Er wendet sich an die Staatsanwaltschaft in Stuttgart, um Strafanzeige zu stellen. Doch in Stuttgart bleiben die Akten zunächst liegen.
Erst im Herbst 1958 wird Boger verhaftet. Fast zur gleichen Zeit erhält Fritz Bauer von dem Journalisten Thomas Gnielka eine Liste mit Namen von SS-Männern, die an Erschießungen in Auschwitz beteiligt gewesen sein sollen. Fritz Bauer holt den Prozess nach Frankfurt. Zwei Jahre lang recherchiert die Staatsanwaltschaft umfassend.
Besichtigung des Lagers Auschwitz durch das Schwurgericht
Fritz Bauer sorgt dafür, dass die jungen Staatsanwälte, die er beauftragt hat, in Auschwitz vor Ort recherchieren können. Zur damaligen Zeit ist das ein riesiger Schritt – schließlich ist es die Zeit des Kalten Krieges und zu Polen bestehen keine diplomatischen Beziehungen.
Mit Hilfe der polnischen Akten gelingt es, genug Informationen zusammenzutragen. Nach zwei Jahren Ermittlungsarbeit eröffnet die Staatsanwaltschaft im Juli 1961 die gerichtliche Voruntersuchung. Die Hauptverhandlung findet von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt statt.
Die Auswirkungen des Auschwitz-Prozesses
Das Urteil im Auschwitz-Prozess fällt eher mild aus: 17 Angeklagte werden wegen insgesamt 15.209 Morden verurteilt. Nur sechs der Angeklagten werden als Täter verurteilt, die übrigen lediglich als Gehilfen.
Dennoch machen die gesellschaftlichen Auswirkungen den Auschwitz-Prozess zu einem Meilenstein in der Geschichte der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit. Dank der langen Vorrecherche und der Zeugenaussagen kann sich die Bevölkerung zum ersten Mal ein Bild von dem Ausmaß verschaffen, wie die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz funktionierte. Nie zuvor ist in einem deutschen Verfahren so ausführlich darüber berichtet worden, was in Auschwitz geschah.
Der Auschwitz-Prozess brachte verhältnismäßig milde Strafen
Mehr als 200 Überlebende von Auschwitz sind als Zeugen zu dem Prozess geladen. In der Presse und in der Literatur beginnt ein neues Nachdenken über die Geschichte Deutschlands.
Und dennoch: Breite Teile der Bevölkerung sind auch 1965 noch nicht bereit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Fritz Bauer sieht sogar sich ständigen Beschimpfungen und anonymen Todesdrohungen ausgesetzt. Seine Hoffnung gilt deshalb immer auch der Jugend.
Ein Jahr vor seinem Tod sagt er in einem Interview: "Ich würde mir wünschen, dass junge Leute von heute vielleicht denselben Traum von Recht besäßen, den ich einmal hatte; und dass sie das Gefühl haben, dass das Leben einen Sinn hat, wenn man für Freiheit, Recht und Brüderlichkeit eintritt."
(Erstveröffentlichung 2004. Letzte Aktualisierung 22.11.2019)
Quelle: WDR