Eine nachträglich kolorierte Porträtaufnahme von Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, aus dem Jahr 1916

Lernen

Rudolf Steiner

Waldorfschulen und Waldorf-Kindergärten, Demeter-Höfe, Naturkosmetik: Rudolf Steiner (1861-1925) hat in seiner Lebenszeit viele Initiativen angestoßen. Bis heute gibt es weltweit tausende solcher Einrichtungen und Organisationen.

Von Jana Magdanz

Neue Ideen für viele Lebensbereiche

Rudolf Steiner war Schriftsteller, Privatlehrer und Vortragsredner. Aber er prägte auch viele andere Lebensbereiche mit seinen ungewöhnlichen Ideen: zum Beispiel die Pädagogik, Medizin, Landwirtschaft, Religion und Architektur. Auch eine eigene Weltanschauung entwickelte er.

Obwohl er vor mehr als 100 Jahren lebte, hat er bis heute einen großen Einfluss, zum Beispiel auf die Schülerinnen und Schüler in den von ihm gegründeten Waldorfschulen. Hier sollen Kinder in ihrem eigenen Tempo lernen, und es gibt keine Schulnoten. In Deutschland sind das rund 250 Schulen mit etwa 90.000 Schülern, weltweit gibt es fast 1.300 Waldorfschulen (Stand 2024).

Eine Außenansicht der Aula der Freien Waldorfschule Bonn-Tannenbusch

Die Aula der Waldorfschule in Bonn-Tannenbusch

Kindheit und Ausbildung

Rudolf Steiner wird 1861 geboren im Dorf Kraljevec (damals Ungarn, heute Kroatien) und wächst mit zwei Geschwistern in einfachen Verhältnissen auf. Sein Vater ist Bahnbeamter und die Familie lebt im Stationsgebäude der Eisenbahn, direkt an den Schienen. Seinen Eltern ist seine Bildung sehr wichtig. Er darf studieren und wählt Biologie, Chemie, Physik und Mathematik an der Technischen Hochschule Wien. Danach wendet er sich aber den Geisteswissenschaften zu.

Während er an seiner Doktorarbeit schreibt, arbeitet Rudolf Steiner in Weimar als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften von Johann Wolfgang von Goethe. Goethe ist vor allem für seine Gedichte bekannt, beobachtete aber auch als Wissenschaftler die Natur. Außerdem sah Goethe in der Kunst eine Möglichkeit, Übersinnliches zu erkunden – also eine unsichtbare Welt, die mit der sichtbaren eng zusammenhänge.

Diese andere Welt fasziniert auch Rudolf Steiner. In seiner Doktorarbeit stellt er 1891 die Behauptung auf, dass der Mensch in der Lage sei, eine übersinnliche, geistige Welt wahrzunehmen – und diese Idee prägt sein ganzes weiteres Leben. Die geistige Welt ist nach Steiners Vorstellung bevölkert: zum Beispiel von Engeln, die Gutes bewirken, aber auch von Wesen, die er "Widersachermächte" nennt, also Gegenspieler, die die Menschen herausfordern und zu schlechtem Handeln verführen können. Außerdem gibt es Naturgeister, die er "Elementarwesen" nennt, wie zum Beispiel Gnome. 

Eine Porträtaufnahme des jungen Rudolf Steiner etwa im Studentenalter

Der junge Rudolf Steiner im Studentenalter

Wissenschaftliche Prinzipien für die übersinnliche Welt

Durch sein Universitätsstudium ist Rudolf Steiner an wissenschaftliches Arbeiten gewöhnt. Wie ein Forscher will er jetzt übersinnliche Dinge erkunden, die Menschen seiner Meinung nach wahrnehmen können, wie zum Beispiel Engel. Er beschreibt, wie man diese Fähigkeit zum Beispiel durch Meditation üben kann. Wenn unterschiedliche Menschen während der Meditation Gleiches wahrnehmen, wertet er das als eine Art wissenschaftlicher Beweis.  

Daraus entsteht eine eigene Weltanschauungslehre, die er Anthroposophie nennt: die Weisheitslehre vom Menschen. Steiner wird berühmt für seine Bücher, seine Vorträge und seine oft als mitreißend beschriebene Ausstrahlung.

Mit seiner ungewöhnlichen Sicht auf die Welt begeistert er viele Menschen. Denn zur damaligen Zeit – also um 1900 – verändern die Industrialisierung und der wissenschaftliche Fortschritt den Alltag in Deutschland. Viele Menschen fühlen sich nur noch als kleines Rädchen im Getriebe und sehnen sich daher nach Sinn.

Steiner verspricht in seiner Lehre, dass es mehr gibt als die sichtbare, materielle Welt und dass jeder Mensch selbst in der Lage ist, diese Welt wahrzunehmen. Und das muss nicht jeder allein herausfinden, sondern kann es in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter tun. Rudolf Steiner gründet 1912 die Anthroposophische Gesellschaft, und die Idee wird zu einer Bewegung. Nach einigen Jahren hat sie bereits 12.000 Mitglieder, heute sind es weltweit um die 42.000 (Stand 2024).

Das Goetheanum-Gebäude in Dornach (Schweiz) wurde nach Modellen von Rudolf Steiner errichtet

Das Goetheanum ist Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft

Waldorfpädagogik

Auf die Anthroposophie baut auch die so genannte Waldorfpädagogik auf. Der Name leitet sich her von der "Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik" in Stuttgart, denn die erste Waldorfschule entstand für die Kinder der Arbeiter in dieser Fabrik. Gegründet wurde die Schule von Rudolf Steiner zusammen mit Emil Molt, dem Besitzer der Zigarettenfabrik. Der Name der Fabrik leitete sich übrigens von dem berühmten Hotel "Waldorf Astoria" in New York ab.

Heute sind Waldorfschulen Privatschulen und gelten als staatlich anerkannte Ersatzschulen, in denen alle Schulabschlüsse erworben werden können. Ihr Lehrplan wurde nach den Erkenntnissen der Anthroposophie erstellt. Und das sorgt schon seit langer Zeit für Kritik, denn Rudolf Steiners Schriften sind umstritten.  

Aufnahme aus dem Innenraum des aktuellen Goetheanums in Dornach mit dem Blick in das farbig gestaltete Südtreppenhaus.

Treppenhäuser und Zimmer sind organisch gestaltet und farbig lasiert

War Steiner Rassist?

Wenn man einzelne Sätze aus seinem Werk betrachtet, liegt es nahe, Rudolf Steiner als Rassisten zu bezeichnen. Zum Beispiel, wenn er ein bestimmtes Aussehen mit Intelligenz in Verbindung bringt: "Die Menschen würden ja, wenn die Blauäugigen und Blondhaarigen aussterben, immer dümmer werden, wenn sie nicht zu einer Art Gescheitheit kommen würden, die unabhängig ist von der Blondheit. Die blonden Haare geben eigentlich die Gescheitheit."

Ein anderes oft verwendetes Zitat nutzt das Wort "Neger", das man damals ganz selbstverständlich gebrauchte. Für Rudolf Steiner scheinen Schwarze und Weiße nicht auf einer Stufe zu stehen: "selbst die Neger müssen wir als Menschen ansehen", schreibt er.

Es handelt sich dabei nur um einige wenige Textstellen in seinem umfangreichen Werk. Und Steiner folgte damit einer weit verbreiteten Ansicht seiner Zeit: Damals sprachen viele Zeitgenossen über "Rassen", noch bevor die so genannte "Rassenlehre" der Nationalsozialisten Millionen von Menschen den Tod brachte. Aber trotzdem sprechen sich auch Anhänger von Rudolf Steiner dafür aus, diese rassistischen und herabwürdigenden Aussagen nicht zu verharmlosen. Sie bleiben rassistisch.

In Rudolf Steiners Texten finden sich auch viele Kapitel voller Respekt für Menschen aus anderen Kulturen. Er sah es als Aufgabe jedes Menschen an, sich als Einzelner weiterzuentwickeln – er meinte damit den Körper, die Seele und den Geist, also auch das Fühlen und das Denken. Ein so geschulter Mensch könnte dann andere Menschen erst richtig wahrnehmen. Und zwar völlig egal, welcher Abstammung sie seien und welchem Volk sie angehörten.

Diese Widersprüche in Steiners Texten werden immer wieder öffentlich diskutiert. Und Kritiker sind besorgt, weil Kindergärten, Schulen und Universitäten in der ganzen Welt bis heute auf der Weltanschauung Steiners aufbauen und so vielleicht auch rassistische Inhalte den Unterricht oder den Umgang miteinander beeinflussen könnten.

(Erstveröffentlichung 2024. Letzte Aktualisierung 12.12.2024)

Quelle: WDR

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