"Kerze" (1982)
Gerhard Richters Bild "Kerze" zeigt eine brennende Haushaltskerze vor einem leeren Hintergrund. Sie ist leicht verschwommen gemalt und sieht auf den ersten Blick fast aus wie ein Foto. Bei längerer Betrachtung wirkt sie dann zunehmend unschärfer.
Diesen Effekt erreichte der Künstler Gerhard Richter, indem er die noch feuchte Farbe mit einem Pinsel minimal verwischte ("blurring"). Sein Gemälde gilt in der Kunstgeschichte als Symbol des Verloren-Seins in der Welt.
Oft wird die leichte Unschärfe seiner Bilder auch als romantische Sehnsucht nach früheren Zeiten empfunden, weil sie an die verwackelte Optik alter Fotos erinnert. Und die amerikanische Punkrock-Band Sonic Youth verwendete das Motiv 1988 auf der Hülle ihrer Schallplatte "Daydream Nation".
Bei einer Kunst-Auktion wurde "Kerze" 2015 für rund 12 Millionen Euro verkauft. Insgesamt hat Gerhard Richter rund 30 Kerzenbilder gemalt – mit einer einzelnen Kerze, mit zwei oder mit drei Kerzen auf dem Bild. Auf einem davon liegt neben der Kerze noch ein Totenschädel, das Symbol für Tod und Vergänglichkeit.
"Birkenau" (2014)
Das Werk "Birkenau" besteht aus vier einzelnen großformatigen Bildern, die zusammengehören und damit einen so genannten Bilderzyklus bilden. Jeder Teil ist zwei Meter breit und 2,60 Meter hoch und zeigt auf den ersten Blick abstrakte Muster in den Farben Schwarz, Grau, Weiß, Grün und Rot – wobei die dunklen Farben überwiegen und den Bildern eine düstere Stimmung geben. An manchen Stellen schimmert ein Rot durch, das an Feuer oder Blut erinnert.
Der vielleicht wichtigste Teil der Gemälde ist allerdings mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Denn hinter den Farbschichten verbergen sich Fotografien, die Szenen aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zeigen. Hier ermordeten die Nazis zwischen 1940 und 1945 mehr als eine Million Menschen. 1944 fotografierte ein Häftling heimlich, wie die Täter viele Frauen in die Gaskammern trieben und wie Leichenberge verbrannt wurden. Die Fotos wurden 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt, wo Richter sie zum ersten Mal sah.
2014 schließlich malte er vier der Fotografien auf Leinwand und bedeckte sie anschließend mit mehreren Schichten Farbe. Immer wieder übermalte er sie, kratzte die Farbe stellenweise ab und übermalte sie anschließend erneut, bis die Bilder vollständig unter der Farbe verschwunden waren.
Damit zeigte er, dass das Grauen der Vernichtungslager bis heute unfassbar und nicht darstellbar ist. Gleichzeitig ging Richter so indirekt auch auf ein berühmtes Zitat des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno ein: Der hatte 1950 gesagt, es sei "barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben" – also nach der Ermordung von Millionen Menschen mit der Kultur weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Andererseits kann gerade die Kunst auch beim Gedenken die Gefühle der Menschen ansprechen und zudem - wie im "Birkenau"-Zyklus - das Unsichtbare in den Mittelpunkt stellen.
Richter selbst nannte den "Birkenau"-Zyklus seine wichtigste Arbeit. Die Originale von 2014, gemalt in Öl auf Leinwand, hat Richter übrigens für unverkäuflich erklärt. Sie sollen im Eigentum der Gerhard-Richter-Stiftung immer öffentlich zugänglich bleiben.
Seit 2017 hängt eine Kopie von "Birkenau" in der Eingangshalle des Deutschen Reichstags in Berlin, dem Sitz des Deutschen Bundestags. Eine weitere befindet sich seit 2024 in einem Ausstellungshaus in der polnischen Stadt Oswiečim, nahe der Gedenkstätte Auschwitz.
"18. Oktober 1977", auch "Stammheim-Zyklus" genannt (1988)
Die Bildserie "18. Oktober 1977" besteht aus 15 einzelnen grau-schwarz-weißen Gemälden. Sie erinnern an Fotos, die allerdings so unscharf gemalt sind, dass sich die Personen darauf nicht richtig erkennen lassen. Die Serie wird auch "Stammheim-Zyklus" oder "RAF-Zyklus" genannt.
Bei den dargestellten Menschen handelt es sich um linksradikale Terroristinnen und Terroristen, darunter Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Sie gehörten zur Terrorgruppe "Rote Armee Fraktion" (RAF), die in den 1970ern mehrere Anschläge und andere schwere Gewaltverbrechen in deutschen Städten verübte. Sie wurden gefasst und kamen ins Stuttgarter Hochsicherheitsgefängnis Stammheim.
Dann fand man Baader, Ensslin sowie den RAF-Terroristen Jan-Carl Raspe tot in ihren Gefängniszellen – am 18. Oktober 1977, daher der Titel von Richters Werk. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, ob sich die drei selbst töteten oder getötet wurden.
1988 malte Gerhard Richter die toten Terroristen so, dass die Bilder wie unscharfe Fotos aussehen. Dadurch wollte er zeigen, dass es keine klare, eindeutige Wirklichkeit gibt, sondern immer nur verschiedene Sichtweisen auf Ereignisse: Während sich die RAF-Mitglieder selbst als Kämpfer für ein sozial gerechteres Leben sahen, waren sie für die meisten Deutschen dagegen Mörder und Attentäter.
Der Stammheim-Zyklus soll dazu anregen, über Gewalt, Schuld und Erinnerung nachzudenken. Kritiker allerdings werfen Gerhard Richter vor, dass er zwar die Täter gemalt habe, aber nicht die Opfer der Terroristen.
Die Bilder und die Reaktionen darauf zeigen also auch, wie schwierig es ist, Geschichte und Vergangenheit darzustellen. In einem Interview sagte Gerhard Richter dazu: "Es geht doch auch darum, dass wir so eine Geschichte nicht einfach vergessen können wie Müll, sondern versuchen müssen, anders damit umzugehen – angemessen."
(Erstveröffentlichung 2024. Letzte Aktualisierung 18.12.2024)
UNSERE QUELLEN
- Uwe M. Schneede: "Gerhard Richter – Der unbedingte Maler". Verlag C.H. Beck München 2024
- Benjamin H.D. Buchloh: "Gerhard Richters Birkenau-Paintings". Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2016
- Katrin Seidel: "Die Kerze – Motivgeschichte und Ikonologie". Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996
- Helmut Friedel (Hrsg.): "Die Kerze". Verlag Walther König Köln, 2016
- Stefan Aust: "Der Baader-Meinhof-Komplex". Piper Taschenbuch Verlag, 2020
- Homepage von Gerhard Richter: "Baader Meinhof"
- Frankfurter Rundschau: "Sie leuchten wieder" (08.01.2019)
- Focus.de: "12 Millionen Euro für 'Kerze' von Gerhard Richter
- Deutsche Welle: "Gerhard Richter zum 80. Geburtstag"
- LWL-Museen für Industriekultur / Porta Polonica: "'Birkenau' von Gerhard Richter"
- tagesschau.de: "Gerhard Richter präsentiert Birkenau-Zyklus" (Video)
- ZEIT.de: "100 Werke von Gerhard Richter für Berliner Nationalgalerie"