Geschichte der Arbeit
Interview: Eine kurze Geschichte vom Arbeiten zuhause
Menschheitsgeschichtlich betrachtet fand Arbeiten die längste Zeit zuhause statt. Erst mit der Industrialisierung setzte sich die Erwerbsarbeit außer Haus durch, sagt Andrea Komlosy. Sie ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien und hat bereits mehrere Bücher darüber verfasst, wie sich die Arbeit über die Jahrhunderte verändert hat.
Von Andrea Böhnke
Planet Wissen: Frau Komlosy, seit wann arbeiten die Menschen eigentlich?
Andrea Komlosy: Seit der Industrialisierung fassen wir Arbeit sehr eng und meinen damit die außerhäusliche bezahlte Erwerbsarbeit. Alles andere betrachten wir heute in der Regel nicht als wertschöpfende und wertschaffende Arbeit.
Menschheitsgeschichtlich gesehen ist Arbeit aber natürlich ein viel weiterer Begriff: Sie ist alles, was die Menschen tun, um ihr Leben zu sichern – nicht nur das Überleben im engeren Sinne, sondern auch im Hinblick auf soziale und kulturelle Aspekte. Ohne diese Arbeit könnte unsere Gesellschaft nicht existieren.
Wie haben die Menschen früher gearbeitet, als es noch keine Büros und Fabriken gab?
Arbeiten hat in der Geschichte lange zuhause stattgefunden. Es gibt im Deutschen den sehr treffenden Begriff des "Ganzen Hauses". Damit ist gemeint, dass die Menschen am selben Ort gelebt und gearbeitet haben. Die häusliche Familienwirtschaft war die normale Form zu arbeiten – sei es in der Landwirtschaft oder im Handwerk.
Jahrtausendelang fand Arbeit vor allem in der häuslichen Familienwirtschaft statt
Selbst im 18. Jahrhundert, als bereits viel für überregionale Märkte produziert wurde, fand die gewerbliche Arbeit vor allem zuhause statt. Wobei es natürlich immer auch Arbeiten außer Haus gegeben hat, zum Beispiel im Transportwesen, etwa die Kutscher, oder auch im Kriegshandwerk die Soldaten. Das waren aber die Ausnahmen.
Das Ganze Haus beschränkte sich nicht nur auf die engere Familie. Im Prinzip war auch ein adeliger Hof ein Ganzes Haus. So gesehen müsste man sich eigentlich fragen: Wann hat sich die Arbeit aus dem Haus hinaus verlagert?
Und wann war das?
Das war vor allem eine Folge der Industrialisierung, verstanden als Zentralisierung und Mechanisierung der Produktion. Im frühen 19. Jahrhundert wanderte in Deutschland ein großer Teil der Arbeit langsam, Branche für Branche und Region für Region, in die Fabriken ab.
Wobei es natürlich nicht nur Fabriken waren. Es konnten auch Baustellen sein, Büros, Bergwerke. Denn durch die zunehmende Urbanisierung entstanden sehr viele außerhäusliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese Form der Arbeit, die bezahlte Erwerbsarbeit außer Haus, setzte sich dann langsam, aber sicher als Norm durch.
Während das, was in den Häusern zurückblieb, nicht mehr als Arbeit angesehen wurde – egal ob sie bezahlt war oder unbezahlt, ob es sich etwa um Hausarbeit handelte oder um selbstversorgende Landwirtschaft.
Warum veränderte sich die Einstellung zu der Arbeit zuhause?
Die Arbeit, die bezahlt wurde und in Unternehmen stattfand, war marktorientiert und daher wertschöpfend. Die Arbeit zuhause ist dagegen immer stärker versorgungsorientiert.
Andererseits war das 19. Jahrhundert auch die Zeit, als sich das bürgerliche Familienideal durchsetzte: Der Mann war der Ernährer, während die Frau nicht mehr arbeiten sollte – im Sinne von außerhäuslich erwerbstätig sein –, sondern sich aus Liebe um ihre Familie und das Haus kümmern sollte.
Damit wurde die Frauenarbeit abgewertet. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Hausfrauisierung. Natürlich hat aber auch eine Tochter aus gutem Hause im 19. Jahrhundert alle möglichen Fertigkeiten erlangt, die es ihr in Notsituationen wie Krieg ermöglichen sollten, etwas dazu zu verdienen.
Was bedeutet der Begriff Heimarbeit?
Heimarbeit meint, dass jemand für seine Arbeit zuhause Geld bekommt. Es gab sie bereits lange vor der Fabrikarbeit. Ab dem 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts hat sie die Fabrikarbeit dann aber entscheidend ergänzt, weil bestimmte Bereiche nicht mechanisierbar waren.
In der Bekleidungsindustrie mussten zum Beispiel nach wie vor irgendwelche Teile per Hand zusammen- oder Knöpfe angenäht werden. Das waren nicht immer die gleichen Tätigkeiten, weil sich nach einiger Zeit dafür auch wieder mechanische oder automatische Lösungen gefunden haben. Aber sehr häufig blieb eben etwas über, das dann ausgelagert wurde.
Es gab natürlich auch eine gewisse Nachfrage nach solchen Aufträgen, zum Beispiel, weil der Arbeitsweg zu kompliziert war oder man sich zuhause um seine Kinder kümmern musste. Meist erledigten Frauen die Heimarbeit – es war eine Chance für sie, neben ihren häuslichen Pflichten etwas Einkommen zu erzielen.
Näharbeiten wurden lange Zeit in Privatwohnungen ausgelagert – auch, als es bereits Fabriken gab
Die Situation der Heimarbeiterinnen war aber nicht nur positiv, oder?
Heimarbeiterinnen waren im Prinzip abhängig Beschäftigte und die Unternehmer haben ihre Situation beinhart ausgenutzt. Sie erhielten keine Sozialleistungen und niedrige Löhne, sodass es sich eher um eine Art Zuverdienst zum Einkommen des außerhalb tätigen Familienvaters handelte.
Studien mit älteren Heimarbeiterinnen zeigen, dass diese selbst ihre Tätigkeit auch in diesem Sinne verstehen: "Eine erwerbstätige Arbeiterin war ich nicht. Ich war Hausfrau und Mutter, die halt ein bisschen was dazuverdient hat."
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Heimarbeit in Deutschland dann mehr oder weniger verschwunden, weil der Konkurrenzdruck, was die Produktivität angeht, zu groß war.
War die Heimarbeit denn nicht produktiv?
Wenn die Heimarbeiterinnen im 18. Jahrhundert genügend verdient hatten, haben sie oft aufgehört zu arbeiten und sich Haus und Familie gewidmet – es war schwer, sie zu disziplinieren. Das war auch einer der Gründe, warum sich die Fabrik oder auch die Vorläufer der Fabrik überhaupt erst entwickelt haben: Sie boten eine Möglichkeit zur Disziplinierung.
Natürlich war die Arbeit im "Ganzen Haus" auch mit einem gewissen Stress verbunden und mit der Herausforderung, alles unter einen Hut zu bringen. Aber man konnte sich die Zeit und Arbeit viel selbstständiger einteilen.
Haben die Menschen eher ungern die Arbeit zuhause gegen die Arbeit in der Fabrik getauscht?
Ich würde es mal so sagen: Diejenigen, die in die Fabrik gegangen sind und dort ein positives, proletarisches Bewusstsein entwickelt haben, die haben sich natürlich fortschrittlich gefühlt. Dazu hat auch die ganze gesellschaftliche Wertschätzung dieser Arbeit beigetragen. Und diese Fabrikarbeiter haben die Heimarbeit schon als etwas Rückständiges angesehen – vor allem, weil man damit deutlich weniger verdient hat.
Die Fabrikarbeit wurde als Privileg gesehen. Spätestens ab dem Zeitpunkt, ab dem es eine gewisse soziale Absicherung in der Fabrik gab. Interessant ist, dass die Menschen in der Familienwirtschaft sehr darauf beharrt haben, nicht Fabrikarbeit annehmen zu müssen, also nicht weggehen zu müssen – denn oft bedeutete Fabrikarbeit ja, dass man in die Städte gehen musste. Aber auch vor Ort haben viele die Heimarbeit vorgezogen.
Die Arbeit in der Fabrik war für viele ein Privileg – sie übten sie mit Stolz aus
Warum war das so?
Diese Menschen haben sich als Hausbesitzer gefühlt. Und das hat sehr stark damit zu tun, dass die Unterschichten in den vorindustriellen Gesellschaften – zum Beispiel in einem Dorf – nicht einfach eine Familie gründen und ein Haus errichten konnten. Sie mussten entweder als Hilfsarbeiter, Knechte, Mägde oder als Tagelöhner ihr Geld verdienen. Sie haben manchmal Familien gegründet, aber besaßen kein Haus.
Das hat sich erst im 18. Jahrhundert langsam geändert. Gerade die häusliche Textil- oder in manchen Regionen auch die Metallindustrie hat diesen Menschen die Möglichkeit geboten, ein kleines Haus zu erwerben, weil sie genügend Einkommen aus der Heimarbeit hatten.
Das war kein richtiger Hof, der eine bäuerliche Existenz ermöglichte, sondern ein Kleinhaus zur Selbstversorgung. Das aber bedeutete, dass man nicht mehr zur Miete wohnen musste, sondern ein behauster Bürger war.
Für manche war die Heimarbeit also eine Chance, sich überhaupt erst ein Haus leisten zu können.
Richtig. Das Haus haben sie zwar oft selbst gebaut, aber die Heimarbeit ermöglichte es ihnen, überhaupt ein Grundstück erwerben zu können. Insofern kann man sagen, dass die Arbeit im Haus – und zwar die, bevor es Fabriken gab – den Bewohnern ländlicher Regionen soziale Aufstiegsmöglichkeiten geboten hat. Sie wurden zu anerkannten Mitgliedern der Dorf- oder Stadtgemeinschaft. Und als dann die Fabriken entstanden, fiel es ihnen schwer, das wieder aufzugeben.
Konnten die Menschen von der Heimarbeit denn gut leben?
Tatsächlich hat sich die Arbeit im Kleinhaus oft als nicht so tragfähig erwiesen. Die Menschen wurden stark unter Druck gesetzt von schwankenden Aufträgen und niedrigen Löhnen. Viele haben ihre Existenz zwar weitergeführt, also ihre Heimarbeitssituation kultiviert. Gleichzeitig haben sie aber einzelne Familienmitglieder in die außerhäusliche Erwerbsarbeit geschickt, durchaus auch in die Arbeitsmigration, die dann Geld nach Hause geschickt haben.
Da es zu dieser Zeit noch keine gesetzlichen Absicherungen gab, konnte man sich umgekehrt auf die Daheimgebliebenen verlassen, wenn man seinen Job verlor, einen Unfall hatte oder zu alt geworden war, um auswärts zu arbeiten. Die verschiedenen Familienmitglieder haben jeweils das Ihre zum gemeinsamen Haushaltseinkommen beigetragen: die einen über die außerhäusliche Erwerbsarbeit, die anderen über die bezahlte Heimarbeit und wieder andere vielleicht auch über die Mithilfe in der Subsistenzlandwirtschaft, also in der selbstversorgenden Landwirtschaft.
In vielen Familien galt: Wer zuhause bleibt, muss mitarbeiten
Welche Einstellung hatten die Menschen vor dieser Zeit zur Arbeit zuhause?
Im Mittelalter zum Beispiel hat das Handwerk zu einer absoluten Aufwertung der Arbeit zuhause geführt. Vor allem, weil diese Tätigkeit Qualifikation voraussetzt und Kontrolle über den Arbeitsprozess, Kontrolle über das Arbeitsprodukt.
Das Handwerk war zwar, mit wenigen Ausnahmen, in der Hand von Männern. Aber man kann sich keinen Handwerkerhaushalt vorstellen ohne die weiblichen Familienmitglieder, also die Hausfrauen, Töchter oder sonstige Verwandte, und auch nicht ohne das weibliche Gesinde oder Helferinnen. So ein Haushalt bedurfte viel Arbeit, um geführt zu werden – vor allem, wenn mehrere Beschäftigte dort wohnten und verpflegt werden mussten.
Und wie sah das außerhalb der Handwerkerhaushalte aus?
Auch die bäuerliche Stelle war eine gesellschaftlich anerkannte Position. Die Bauern waren zwar in gewisser Hinsicht abhängig von ihren Grundherren, aber sie haben weitgehend selbstständig gewirtschaftet. Und sie waren produktiv: Sie haben gebaut, Reparaturen durchgeführt, aus ihrer eigenen Schafwolle Kleidung hergestellt, Holzschuhe gefertigt, Lederwaren. Und zwar zusätzlich zur Nahrungsmittelherstellung und -verarbeitung.
Niemand wäre auf die Idee gekommen zu sagen, dass diese Arbeiten keine Arbeiten sind, obwohl sie nicht für den Markt bestimmt waren, sondern allein für die Versorgung des eigenen Hofes. Im "Ganzen Haus" floss auch viel Kulturelles mit ein: Erntedankfeste, Nachbarschaftshilfe, Geschenke – solche Rituale hatten im Ganzen Haus Platz, in der Erwerbstätigkeit aber nicht. Wenn überhaupt, dann in der Freizeit.
Gibt es heute noch Kulturen, die im Ganzen Haus wirtschaften?
Nein, eigentlich gibt es das nicht mehr. Im Endeffekt ist über das Vordringen der kapitalistischen Marktwirtschaft ein solcher Druck auf diese Gesellschaften ausgeübt worden, dass sie ohne Geldeinkommen nicht leben können. Die außerhäusliche Erwerbstätigkeit hat sich als Norm durchgesetzt. Allerdings spielt in Entwicklungsländern Selbstversorgung im Familienhaushalt weiterhin eine wichtige Rolle als Auffangbecken bei Krisen und Erwerbslosigkeit.
UNSERE QUELLEN
- Eigenes Interview mit Andrea Komlosy, Professorin für Geschichte, Universität Wien (27.05.2021)
- Mansfeld-Museum: Die erste Dampfmaschine
Quelle: WDR | Stand: 28.06.2021, 14:26 Uhr